Die Piraten haben keine Ahnung, aber davon eine Menge. Es wird Zeit, die Neuparlamentarier an ihrem Programm zu messen

Früher war es schöner, ein Freibeuter zu sein. Da war der Totenkopf, der über St. Pauli wehte, noch etwas Besonderes. Am "Roten Korsar" schieden sich die Geister, und zumindest hanseatische Kaufleute konnten sich auch noch 600 Jahre danach über das Treiben der Likedeeler um Störtebeker empören.

Heute haben alle die Piraten lieb - wenn sie als possierliche Parlamentarier wie jüngst im Saarland die Politik entern. Die Wutbürger können Protest und Parteienverdrossenheit auf einem Wahlzettel vereinen, und Kommentatoren dürfen allen beweisen, wie modern und der Zukunft zugewandt sie sind. Vom "Stern" bis zur "Mopo", vom "Kölner Stadtanzeiger" bis zum "Trierischen Volksfreund", die Leitartikel schwanken zwischen Wohlwollen und Begeisterung, gleich neun Prozent bekommen sie in aktuellen Umfragen.

Abgesehen von vereinzelten Restliberalen wagt nicht einmal die etablierte Politik, die Internetpartei kritisch anzugehen. Angesichts des infantilen Auftretens und des kindischen Programms gilt für die Piratenpartei offenbar die Kuschelpädagogik der Siebziger. Da halten wir an dieser Stelle mal klar gegen und behaupten: Selten hat eine so eindimensionale Partei ein so vielstimmiges Echo bekommen, nie bekamen Hobbypolitiker, die wenig zu sagen haben, so viel Raum in Talkshows.

Warum eigentlich? Weil die Piraten sich moderner Kommunikationsmittel bedienen, das Internet ins Zentrum rücken, twittern, bloggen - kurzum Sachen anstellen, die viele nicht verstehen, aber alle furchtbar modern finden? Weil sie neu sind und in einer überreizten Gesellschaft nur neue Spielzeuge Spaß machen? Weil sie in einer Zeit unübersichtlicher Problemlagen nur ein Thema kennen und damit die Welt einfacher machen? Oder weil sie als unangepasste Seiteneinsteiger im grauen Politikeinerlei so bunt daherkommen?

Vermutlich von allem etwas. Zwar finden sich bei den Piraten kluge Köpfe, sie haben etwas Sympathisch-Frisches und zwingen die etablierten Parteien, die Lebenswirklichkeit der digitalen Jugend wahrzunehmen. Aber woher Politikwissenschaftler die Gewissheit nehmen, die Piraten seien mehr als eine Laune der Demokratie und stünden vor ihrer Etablierung, bleibt rätselhaft.

Am Programm jedenfalls kann es nicht liegen. Es dürfte kaum eine Partei geben, die so schlicht die Welt erklärt. 24 Seiten reichen derzeit für ein Programm. Praktischerweise kommen die Worte Euro, Schulden, Afghanistan oder Arbeitslosigkeit gar nicht vor. Der "Schutz der Whistleblower", ein Wort, das wir im Deutschen bis dato nicht einmal vermisst hatten, nimmt doppelt so viel Raum ein wie Umwelt- und Energiepolitik. Freiheit beschränkt sich auf die Freiheit von Urheberrechten, also den Persilschein zum Diebstahl geistigen Eigentums. Die viel beschworene "Kostenlos-Kultur" der Piraten aber fördert keine Kultur, sondern beschleunigt ihren Untergang.

Das Virtuelle bestimmt Denken und Programmatik. Für die Probleme des Alltags bleiben nur Kuriositäten. Mann und Frau sind Erfindungen von vorgestern. Die Partei lehnt "die Erfassung des Merkmals 'Geschlecht' durch staatliche Behörden" ab. "Übergangsweise kann die Erfassung seitens des Staates durch eine von den Individuen selbst vorgenommene Einordnung erfolgen." Man darf gespannt sein, ob bald auch "Neutrum", "Avatar" oder "Nerd" anerkannte Geschlechter sind. So konsequent wie grotesk liest sich da die Piraten-Forderung: "Der Zwang zum geschlechtseindeutigen Vornamen ist abzuschaffen."

"Abschaffen" ist hingegen das Betriebssystem der Piraten. Ob die Deutsche Oper in Berlin, Industrie- und Handelskammern oder Patente, das kann alles weg und wird in der schönen neuen Welt nicht mehr gebraucht. Was, diese Frage drängt sich auf, haben die Piraten eigentlich geraucht? Offenbar eine Menge, wie die Programmpassage zu Drogen mutmaßen lässt: "Genuss und Rausch sind Bestandteil unserer Gesellschaft und erfüllen grundlegende, soziale Funktionen. Der Respekt vor der freien Entscheidung des Individuums und das Vertrauen in seine Vernunft und seine Begabung zur Lebensfreude ist die Voraussetzung zur Etablierung einer Genusskultur, die den Rausch als schöpferische Möglichkeit zu nutzen versteht."

"Vertrauen in die Vernunft" ist ein schönes Stichwort für Wähler. Eine Partei, die sich anschickt, in immer mehr Parlamente einzuziehen, sollte man beim Wort nehmen. Zuschreibungen wie "drollig", "frech" oder "bunt" sind für eine Demokratie zu dürftig.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt