Der Streit um Spitzenkandidaten soll basisdemokratisch verbrämt werden

Eines wollten die Grünen nie sein: eine Partei wie alle anderen, geführt von einer dem Alltag entfremdeten Funktionärskaste aus Berufspolitikern. Und um diesen Nimbus der Anti-Parteien-Partei aufrechtzuerhalten, haben sie sich bei ihrem Marsch durch die Institutionen allerhand einfallen lassen: In den frühen Jahren mussten alle Parteiämter ehrenamtlich ausgeübt werden. Diäten oberhalb des Niveaus eines Facharbeitergehalts waren an die Partei abzuführen. Amt und Mandat waren strikt getrennt, und es galt das Rotationsprinzip, nach dem Abgeordnete nach der Hälfte ihrer Amtszeit das Mandat weiterreichen mussten.

Das meiste davon ist mangels Praxistauglichkeit längst vergessen oder abgemildert. Die Grünen mussten von den anderen Parteien lernen, dass Berufspolitiker nicht automatisch schlechte Vertreter ihres Berufsstandes sind und dass es durchaus von Vorteil ist, wenn sich ein Mandatsträger mit ganzer Kraft und vollem Zeiteinsatz seiner Aufgabe widmen kann. Geblieben sind ihnen Frauenquote und Doppelspitze, die Ämterbesetzungen nach Geschlechtern und Parteiflügeln austarieren sollen. Immer noch genügend Regeln und damit verbundene Fallstricke, um jede Personalie, für die sich mehr als eine Kandidatin der Linken und ein Realo-Mann (oder umgekehrt) interessieren, zu einem Schachspiel mit öffentlichkeitswirksamem Unterhaltungswert werden zu lassen. Ganz danach sieht es auch bei der nun anstehenden Bestimmung der Spitzenkandidaten für die kommende Bundestagswahl aus. Übrigens auch einer jener Posten, den es bei den Grünen lange Jahre gar nicht gab, weil allein Inhalte die Wähler überzeugen sollten. Aber auch bei den Grünen waren gängige Konzepte des Polit-Marketings auf Dauer nicht zu verhindern, und ihr Spitzenpersonal ist von menschlichen Eigenschaften wie Eitelkeit und Karrieredenken nicht völlig frei.

Der Verdacht, Fraktionschef Jürgen Trittin solle im Hinterzimmerverfahren als alleiniger Spitzenkandidat auf den Schild gehoben werden - etwas, was bisher nur dem Parteiübervater Joschka Fischer vergönnt war -, rief umgehend Claudia Roth auf den Plan. Die schrille und bei der Basis beliebte Grünen-Chefin meldete eigene Ansprüche an und setzte damit das gesamte andere Spitzenpersonal unter Zugzwang. Dem ist es immerhin gelungen, sich in wenigen Tagen auf das weitere Vorgehen zu einigen, ohne jetzt, mitten in drei Landtagswahlkämpfen und nach dem Sinkflug aus den Fukushima-Umfragehöhen, in einen offenen Führungsstreit zu stolpern. Zumindest ist erst einmal Zeit gewonnen, sich noch auf ein quotengerechtes Duo zu einigen - oder im Herbst die Mitglieder zu befragen. Ein schöner Rückgriff auf die eigenen Wurzeln. Postengerangel und Karriereplanung können so basisdemokratisch verbrämt werden. Bei einer Regierungsbeteiligung stehen den obersten Wahlkämpfern schließlich die lukrativsten Posten zu. Auch in diesem Punkt sind die Grünen in der Wirklichkeit angekommen. Sie müssten es sich nur noch eingestehen.

Und noch eines können sie von den anderen Parteien lernen: Die Basis muss nicht automatisch weiser entscheiden als die Parteispitze. Die Sozialdemokraten kennen die Mitgliederbefragungen längst. 1993 haben die Genossen den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping seinem niedersächsischen Kollegen Gerhard Schröder als Parteichef vorgezogen. Das Ende der Geschichte ist bekannt.

Es gibt aber auch keine demokratische Entscheidung, die nicht auf demselben Wege wieder korrigiert werden könnte. Derlei Beschäftigung mit sich selbst kann für professionelle Beobachter und Freunde der gepflegten Intrige zwar überaus unterhaltsam sein. Normale Wähler schreckt das aber eher ab.

Der Autor ist verantwortlich für das Politikressort des Abendblatts