Der Präsident Afghanistans brüskiert die Nato um des eigenen Machterhalts willen

Die Verwirrung um die Forderung des afghanischen Präsidenten Karsai nach einem stark vorgezogenen Abzug der Nato aus Afghanistan erinnert ein wenig an den 9. November 1989, als SED-Politbüromitglied Günter Schabowski voreilig behauptete, die Mauer sei bereits offen. Die Folgen sind bekannt. Vermutlich war Karsai von US-Verteidigungsminister Leon Panetta lediglich im Vertrauen gebeten worden, öffentlich einem etwas beschleunigten Abzug der westlichen Truppen das Wort zu reden. Denn dies würde es dem politisch bedrängten US-Präsidenten Barack Obama ermöglichen, einen zügigen Rückzug der GIs als reinen Gefallen gegenüber der Kabuler Regierung zu verkaufen.

Doch damit, dass Karsai gleich den Abzug aller Nato-Truppen bereits 2013 sowie deren sofortigen Hausarrest in ihren Kasernen fordern würde, rechnete offenbar niemand in Washington und bei der Nato. Nun versuchen alle - inklusive Karsai - einem ungeordneten Wettrennen der westlichen Truppensteller Richtung Ausgang entgegenzuwirken.

Für Karsai gibt es zwei Motive, derart über das Ziel hinauszuschießen. Zum einen ist dies ein populistischer Reflex auf die verständliche Wut der Afghanen nach dem Amoklauf eines US-Soldaten mit 16 zivilen Toten, der Koranverbrennung durch amerikanische Soldaten und dem Urinieren von US-Marines auf gefallene Taliban.

Zum anderen aber will sich Karsai bei den starken antiwestlichen Kräften Afghanistans vorsichtshalber profilieren. Seit Langem sucht der Paschtune ein Einvernehmen mit den Taliban, die ihren massiven militärischen Druck nach dem Abzug der Nato noch erheblich verstärken dürften. Zuvor schon hatte Karsai von der Nato gefordert, die umstrittenen Nachteinsätze zu stoppen, die sich als äußerst wirksame Waffe im Kampf gegen die militanten Extremisten erwiesen hatten - denen aber auch immer wieder Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Karsais durch innenpolitischen Druck befeuerte Behauptung, die noch im Aufbau befindliche afghanische Armee könne inzwischen allein für Sicherheit sorgen, ist von erstaunlicher Kühnheit. Amerikanische Analysen hatten 2011 ergeben, dass von 158 untersuchten afghanischen Bataillonen allenfalls ein einziges in der Lage wäre, ohne Hilfe der Nato zu kämpfen.

Der afghanische Präsident geht mit seinen taktischen Spielchen, mit denen er seine Macht über den Abzugstermin des Westens hinauszuretten bemüht ist, ein hohes Risiko ein, und er sollte froh sein, wenn die USA und die Nato seine radikalen Forderungen zunächst ignorieren.

Die überehrgeizige Mission des Westens, aus Afghanistan eine pluralistische Demokratie zu formen, ist jedenfalls gescheitert. Das Fazit, die USA hätten alle Chancen dazu gehabt, aber durch Ungeschicklichkeit und Arroganz vertan, greift zu kurz.

Viel wichtiger ist die Feststellung: Die Afghanen hatten zehn Jahre lang ihre Chance auf einen gesellschaftlichen und politischen Wandel im Schutz der Nato - und haben sie letztlich verschleudert. Die Beharrungskräfte der archaischen Strukturen erwiesen sich als stärker. Dem Hindukusch droht mittelfristig eine neue Herrschaft der Taliban sowie ein Auseinanderbrechen entlang ethnischer und religiöser Grenzen.

Der Auslöser der jüngsten Zuspitzung, der Amoklauf des US-Feldwebels, ist im Übrigen ein tragisches Symptom für die Überdehnung der amerikanischen Militärmacht. Der Mann wurde entgegen seinem Willen in Afghanistan eingesetzt - obwohl er zuvor bei drei Einsätzen im Irak am Kopf schwer verletzt wurde und einen Teil eines Fußes eingebüßt hatte. Eine ehrliche Bestandsaufnahme bezüglich des US-Militärs nach den Dauerkriegen in Afghanistan und im Irak müsste auch Auswirkungen auf Amerikas militärische Optionen in anderen Konfliktzonen der Welt haben.