Jeder dürfte eine dieser Legenden kennen, die einfach zu gut klingen, als dass sie nicht stimmen könnten. Aber stimmen sie auch?

Hamburg. Am 18. November des Jahres 2009 geschah im Turmsaal des Hamburger Rathauses etwas Unerhörtes: Dirk Reimers, Jahrgang 1943, ehemaliger Polizeipräsident und Staatsrat, wurde vom damaligen Ersten Bürgermeister Ole von Beust für sein ehrenamtliches Engagement - unter anderem fürs Deutsche Rote Kreuz und die Deutsche Nationalstiftung - das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Wie konnte das bloß passieren, schließlich nimmt ein echter Hamburger ja bekanntlich keine Orden an. Heißt es.

Nun ist der gebürtige Neumünsteraner Dirk Reimers ein Holsteiner (und damit ein Preuße, im weitesten Sinne), aber das verschlimmerte diesen offensichtlichen Verstoß gegen ein ungeschriebenes Gesetz. Denn hatte die Hansestadt sich nicht stets vor einer "Verpreußung" gefürchtet?

Den Bundesverdienstkreuzträger Dirk Reimers ließ die Legende von den Hamburger Ordensmuffeln nicht mehr los. Zwei Monate später, am 18. Januar 2010, präsentierte er seine Rechercheergebnisse in einem Referat vor Rotariern. Darin heißt es unter anderem: "In der Verfassungspraxis fand sich der archaische Grundsatz, dass von fremden Herrschern gestiftete Orden Doppelloyalitäten begründen könnten, weil ein Dekorierter in fremder Fürstengunst befangen und in ideelle Submission versetzet würde."

So hätte es 1865 in der Bürgerschaft sogar einen Antrag des Abgeordneten Samson Hertz gegeben, jedem Hamburger die Annahme von Orden, Adelsdiplomen oder Ehrentiteln bei Strafe des Verlustes der hamburgischen Staatsangehörigkeit zu verbieten. "Der Antrag", so Reimers, "wurde jedoch abgelehnt, und nicht einmal der abgemilderte Antrag, zumindest den Mitgliedern von Senat, Bürgerschaft und Gerichten die Annahme von Orden zu verbieten, fand eine Mehrheit." In Wahrheit, so Reimers, hätten es die Hamburger mit ihrem Ehrenbürger Johannes Brahms gehalten, der listig bemerkt hatte: "Ich bin entschieden gegen Orden, aber haben möchte ich sie!"

So sperrte sich auch nicht einmal der Erste Bürgermeister a. D. Hans-Ulrich Klose, als ihm für seine Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft am 17. Mai 2001 der Orden der französischen Ehrenlegion verliehen wurde - und das, wo doch Hamburg zwischen 1806 und 1814 unter den napoleonischen Besatzungstruppen mächtig gelitten hatte.

So ist die sprichwörtliche Hamburger Antipathie gegen ehrenvolles Edelmetall nichts anderes als ein liebevoll, bisweilen auch hartnäckig gepflegter Mythos. Eine dieser Legenden, die "irgendwann einmal entstanden sind", die häufig logisch und nachvollziehbar erscheinen und einfach zu gut klingen, als dass sie nicht stimmen könnten.

Andererseits eignen sich solche Mythen leider auch zur Geschichtsklitterung: So hält sich bis heute die Behauptung. dass der Nationalsozialismus in Hamburg längst nicht die fanatischen Züge trug wie anderswo im Dritten Reich. War die Hansestadt gar "Gegenspieler oder doch Musterknabe oder gar ein Problemkind des Dritten Reiches?", wie es der Historiker Frank Bajohr von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte formuliert. Bajohr fand heraus, dass die Nazi-Ideologie selbstverständlich in Hamburg keine Randerscheinung war, sondern absolut linientreu umgesetzt wurde. "Mit großer Wahrscheinlichkeit", sagt er, "trug sogar ein frühzeitiger Vorstoß des Hamburger Reichsstatthalters Karl Kaufmann dazu bei, die Deportationen der Juden in die Vernichtungslager ab Oktober 1941 reichsweit in Gang zu setzen." Denn Kaufmann hatte sich zwei Tage nach einem der ersten schweren Bombenangriffe am 16. September 1941 schriftlich an Hitler gewandt, um die Einwilligung zur Deportation der rund 6000 noch in Hamburg lebenden Juden zu bekommen.

"Dieser Brief ist allerdings verschollen", sagt Frank Bajohr, "doch ein Schreiben Kaufmanns an Hermann Göring aus dem Jahre 1942 ist erhalten geblieben." Darin schrieb Kaufmann: "Im September 1941 war ich nach einem schweren Luftangriff an den Führer herangetreten mit der Bitte, die Juden evakuieren zu lassen, um zu ermöglichen, dass wenigstens zu einem gewissen Teil den Bombengeschädigten wieder eine Wohnung zugewiesen werden könnte. Der Führer hat unverzüglich meiner Anregung entsprochen." Dabei war Kaufmanns "Wunsch" am Widerstand des Generalgouverneurs im besetzten Polen, Hans Frank, gescheitert, der die Juden aus Hamburg nicht aufnehmen wollte.

Der Reichsstatthalter trieb die Errichtung des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel voran, torpedierte staatsanwaltliche Untersuchungen und ließ zu Tode geprügelte Häftlinge widerrechtlich sofort einäschern. Später sagte Kaufmann als Zeuge vor dem Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 wahrheitswidrig aus, er hätte den Pogrom im November 1938 in Hamburg verboten. Dabei waren die SA-Kommandos in Hamburg nach demselben Muster gegen jüdische Bürger vorgegangen wie andernorts. Doch über den gesamten Zeitraum des Dritten Reiches gesehen, gab es in Hamburg in der Tat nicht die Auswüchse von offener Straßengewalt gegen Juden - obwohl die NSDAP schon bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 hier erheblich mehr Stimmen erringen konnte als in der Nazihochburg München. "Die Legende vom liberalen Hamburg wurde nach 1945 von hohen Beamten und Funktionsträgern des Regimes lanciert, um sich zu entlasten", sagt Bajohr.

Grundsätzlich gilt: Je älter ein Mythos, desto schwieriger lässt er sich entzaubern. Anders lässt es sich nicht erklären, warum selbst offizielle Hamburg-Websites - und die Hafenrundfahrtsschifffahrtskapitäne sowieso - die Gründung des Hamburger Hafens stets auf den 7. Mai 1189 datieren: wegen des einen Freibriefs des Kaisers Friedrich Barbarossa, der dem Grafen von Schauenburg respektive den Hamburgern "die Zollfreiheit für die Schiffe von der Stadt bis zur Nordsee gewährte".

Doch dieser "Freibrief" des Kaisers mit dem Bart, der bis heute im Hamburger Staatsarchiv zu bewundern ist, war eine für die damalige Zeit "typische mittelalterliche Urkundenfälschung", wie es der Historiker Heinrich Reinke bereits 1956 herausgefunden hatte. Doch diese "selbst gemachte Zollfreiheit" der cleveren Hamburger hatte die durchaus angenehme Folge, dass sie den Aufstieg der Stadt zur Seehandelsmetropole extrem beschleunigte.

In diesem Zusammenhang kommt dann die wahre Wahrheit ans Licht: Denn der Hafen ist gut 400 Jahre älter als die schlappen 822 Jahre. Darüber hinaus war der Hafen auch nicht an der Elbe, sondern zu Beginn des 9. Jahrhunderts erstmals an der Alster gebaut worden - am Reichenstraßenfleet, das jedoch im Jahre 1877 zugeschüttert wurde. Und das lag nun mal kurz vor der Mündung der Alster in die Elbe.

Und selbst trotz dreier großer Ausgrabungen am Domplatz (seit 1945) streiten die Archäologen über den exakten Standpunkt der Hammaburg, dem nördlichsten befestigten Außenposten des damaligen fränkischen Reiches. Noch immer steht nicht einwandfrei fest, wo sich diese Hammaburg befand; man weiß jedoch, dass die Wikinger, Wenden und Dänen den Weg zu ihr gekannt haben mussten, denn sie hatten die Ansiedlung (natürlich nacheinander, im Laufe der Jahrhunderte) jeweils erobert, ausgeplündert und niedergebrannt.

Erst im Jahre 1188 kehrte dann mit der Neugründung Hamburgs durch den Schauenburger Grafen Adolf III. wieder so etwas wie eine geordnete, vorausschauende Stadtplanung ein: Mit dem Bau der ersten Hafenanlagen wurden Schiffer und Kaufleute vom Grafen gezielt angeworben, um den Aufschwung der Stadt zu beschleunigen. Bald besaß Hamburg 5000 Einwohner, und die Stadt wuchs und wuchs. Die Alster wurde durch einen Damm (von der Bergstraße bis zum heutigen Gänsemarkt) aufgestaut. So entstanden Binnen- und Außenalster. Doch durch diese Maßnahme wurde wiederum der Nikolaifleethafen fast trockengelegt, und so musste schließlich ein neuer Hafen an der Alstermündung in die Elbe gebaut werden: Das war jetzt (endlich) der erste Elbehafen, der diesen Namen auch verdiente.

So verborgen wie das Geheimnis der sagenumwitterten Hammaburg sind auch die Mythen, die sich in Hamburgs Untergrund festgesetzt haben - nächster Halt: Steilshoop. Diese Hochbahnhaltestelle soll sich unter der Gustav-Gründgens-Straße befinden, getarnt als Tiefgarage des CCS-Einkaufszentrums. Noch 2009 hatte Carsten Heeder, der für die SPD in der Wandsbeker Bezirksversammlung sitzt, aufgrund zahlreicher Hinweise aus der Bevölkerung versucht diese Frage per Anfrage an den Bezirk zu klären - doch er erhielt, so lässt es sich seinem Blog entnehmen, nur eine höchst unbefriedigende Antwort (auf die er nicht weiter eingeht). Um es klar zu sagen: Nein, es gibt in der Unterwelt von Steilshoop keinen einzigen architektonischen Hinweis auf eine Hochbahnhaltestelle.

Als der Architekt Emil Schaudt 1901 das Bismarck-Denkmal konzipierte, begann in der Stadt eine heftige Diskussion um das Für und Wider. Besonders die Arbeiterschaft war gegen die Heroisierung des Eisernen Kanzlers. Schließlich einigte man sich darauf, Bismarck als "Roland" darzustellen, Schutzpatron der freien Städte. Mit diesem Kompromiss konnten auch die republikanischen Kräfte leben.

Am 2. Juni 1906 wurde das Denkmal eingeweiht. Die Spötter freilich mokierten sich, dass der 14,8 Meter hohe Bismarck der Stadt "den Rücken zukehrte", was allerdings auch bloß ein Mythos ist: Denn schließlich hatte der "Roland aus Aumühle" die wichtige Aufgabe, den Schiffsverkehr auf der Elbe zu beobachten und nach potenziellen Angreifern Ausschau zu halten.

Architekt Schaudt hatte dem Koloss auf dem Hügel jedoch einen Hohlraum spendiert, und einige Hamburger wissen wohl, dass dieser zwischen 1939 und 1941 zu einem Luftschutzraum umgebaut wurde, der rund 950 Menschen aufnehmen konnte. Leidlich bekannt ist auch, dass die Wände dieser Bunkeranlage mit Malereien zumeist nationalistischer Natur "verziert" wurden, wobei nicht zweifelsfrei feststeht, ob sie in der Zeit der Bismarck-Verehrung durch die Nationalsozialisten entstanden waren oder erst nach dem Krieg, als die ewig Gestrigen (noch bis weit in die 1990er-Jahre hinein) immer mal wieder in die feuchten Räume eindrangen, um okkulte Veranstaltungen zu zelebrieren. Daraus, so folgern die Historiker, muss die Legende vom sagenhaften Nazi-Tunnelsystem entstanden sein, das vom Hafen bis Wedel reichte. Inzwischen sind diese ehemaligen Luftschutzräume hermetisch verriegelt. Doch die Tunnellegende hängt noch immer in der Luft.