Im Alzheimer Chor Hamburg singen Menschen mit und ohne Demenz gemeinsam und stärken Solidarität und Selbstwertgefühl

Wandsbek. Sie kann sich einfach nicht erinnern. Wann sie Geburtstag hat und in welchem Jahr. In welchen Bus sie steigen muss, wenn sie nach Hause fahren möchte und wann das alles angefangen hat mit dem Vergessen. Dann schüttelt sie den Kopf, zieht die Stirn in Falten. Vielleicht vor einem dreiviertel Jahr, sagt sie. "Und ich glaube, ich bin 62 Jahre alt." Hanne Schlenter ist zehn Jahre jünger. Sie ist an Alzheimer erkrankt. Eine fortschreitende und unumkehrbare Krankheit, an der bundesweit etwa 1,2 Millionen Menschen leiden. Jetzt steht Frau Schlenter auf dem hellen Laminatboden im Wandsbeker Kulturschloss. Sie hat gute Laune, klatscht in die Hände und erhebt die Stimme. Am Klavier stimmt Chorleiterin Monika Röttger die Melodie an. "Wenn du singst, singen andere mit." Und Hanne singt mit.

Wittich Brandemann hat sich einen Platz am Fenster gesucht. Der 76-Jährige zieht die Augenbrauen hoch, als der Gesang durch den Raum hallt. Das Lied hat er beim letzten Treffen schon einmal gehört. Er kann sich an diesen Tag nicht erinnern. Auch nicht an die Dame am Klavier. Aber die Melodie kommt ihm bekannt vor. Und dann fällt ihm plötzlich auch wieder der Text ein. Herr Brandemann lächelt und singt mit.

Ein Dienstagvormittag im Wandsbeker Kulturschloss. Im ersten Stock des Gebäudes an der Königsreihe ist der Alzheimer Chor Hamburg zusammengekommen. Zwölf Teilnehmer sind es, die derzeit an dem von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg e. V. ins Leben gerufenen Projekt teilnehmen. Unterstützt wird der Chor von der Homann-Stiftung, weil dieser die Selbstbestimmung alter Menschen und deren Teilhabe an der Gesellschaft fördert. "Wir wollen den von Alzheimer Betroffenen zeigen, dass sie in der Lage sind, kleine Hürden zu überwinden und noch einmal etwas Neues zu erlernen", sagt Initiatorin Ilga Bertelsons. "Und wir möchten den Teilnehmern die Möglichkeit geben, Gemeinschaft zu erleben. Musik kann dabei sehr helfen."

Herr Brandemann mag Musik. Jeden zweiten Dienstag im Monat macht er sich mit Ehefrau Inge auf den Weg nach Wandsbek. Er hängt seinen Mantel an den Garderobenständer vor der Tür, schiebt sich einen Stuhl zurecht und nimmt Platz. Er macht das, weil die anderen das auch so machen. Warum er hier ist, weiß er nicht, sagt seine Frau. Sie ist sein Gedächtnis, sie kennt seine Geschichte und kann sie erzählen. Von einem Mann, der noch bis vor sechs Jahren bei den Cyclassics Radrennen gefahren ist, der im Pinneberger Männergesangsverein Messen und Kantaten gesungen hat und jahrzehntelang als Bauingenieur tätig war. "All das musste er aufgeben", sagt Inge Brandemann. "Aber er kann auch noch vieles." Bekannte Wege gehen, kleine Strecken mit dem Rad fahren, sich alleine anziehen und eben singen.

Deshalb haben sich die Brandemanns im Chor angemeldet. 50 Euro zahlen sie als Paar für ein halbes Jahr. Sie bekommen dafür von Chorleiterin Monika Röttger, einer staatlich geprüften Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin, ein wahres "neuronales Gewitter" verpasst. Denn im Alzheimer Chor geht es um viel mehr als nur um den Gesang. Es geht um die Verbindung zwischen Rhythmus und Melodie, um Stimme und Bewegung. Und so gibt es zu jedem Lied ein paar Schrittfolgen oder Armbewegungen. Es gibt keine Notenzettel, keine langen Texte. Die Stücke sind kurz, rhythmisch und fröhlich, für den Moment leicht zu merken und wieder abrufbar. "Das hier Erlebte gibt den Menschen ein gutes Gefühl, nach dem Motto: Ich kann doch noch etwas", hat Sozialpädagogin Ilga Bertelsons festgestellt. Das bestätigt eine Studie, die ergeben hat, dass sich durch Musik verbale und vokale Verhaltensauffälligkeiten bei dementen Menschen um zirka 30 Prozent verbessern. "Musik ist für die Betroffenen deshalb so wichtig, weil es nicht nötig ist, denken zu können", sagt Musiktherapeutin Dorothea Muthesius. "Man kann Musik auch so wahrnehmen. Sie spricht das Emotionale an, und das ist bei Menschen mit Demenz noch sehr gut erhalten." Die Betroffenen erlebten, dass sie noch etwas können. "Damit finden sie ein Stück Identität wieder", so Muthesius.

Für Chorleiterin Monika Röttger ist die Arbeit mit dem Alzheimer Chor eine beglückende Aufgabe. "Ich habe das Gefühl, dass im Moment der Melodie etwas in den Menschen anspringt", sagt sie. Und nur um diesen Moment gehe es, nicht um den bleibenden Eindruck. Ein Moment, der 120 Minuten dauert. 120 Minuten, in denen die Grenze zwischen Demenz und Nicht-Demenz schwindet. Und das Vergessen für einen Moment vergessen ist.