Im Kloster der Karmelitinnen auf Finkenwerder gibt es etwas, nach dem sich viele Menschen sehnen: Ruhe und Selbstfindung - nicht nur in der Fastenzeit.

Am Norderkirchenweg ist Endstation für die Linie 251. Der Bus kommt alle halbe Stunde vom Elbanleger herüber ins Finkenwerder Dorf, an den Rand der Metropole, 8,8 Kilometer Luftlinie vom Hamburger Rathaus entfernt. Er kommt aus einer Welt, in der das Leben laut, bunt, zuweilen schrill, vor allem aber hektisch und schnell verläuft. Einer Welt des Konsums und der Genüsse, voller Verheißungen, voller Versuchungen. Einer Welt, der immer mehr Menschen immer seltener gewachsen sind. Weshalb für einige von ihnen am Norderkirchenweg in doppeltem Wortsinn Endstation ist. Wenigstens für ein Weile.

Von der Haltestelle bis zur St.-Petrus-Kirche auf der ehemaligen Apfelwiese nahe dem Deich sind es nur ein paar Schritte. Über dem Portal zeigt eine Stahldrahtskulptur, wie Jesus den ertrinkenden Petrus aus den Fluten rettet. Mehr Symbolik geht kaum. Und das nicht nur, weil die drei Stahlglocken des Kirchturms in jener schicksalhaften Sturmflutnacht vor 50 Jahren die Menschen der umliegenden Häuser warnend aus dem Schlaf gerissen haben. Jenseits der patinaüberzogenen Pforte kann der erschöpfte Mensch heute finden, was ihm der Alltag oft nicht lässt: Ruhe. Und Zeit.

Denn St. Petrus ist Teil einer Karmelzelle, die zum hessischen Karmelitinnen-Kloster Hainburg bei Frankfurt gehört. Am 1. Advent 1999 übernahmen drei Nonnen das verwaiste Pfarrhaus gleich nebenan. Damit haben sie St. Petrus nicht nur vor dem drohenden Abriss gerettet, nachdem die katholische Gemeinde auf unter 500 Mitglieder geschrumpft war. Sie bieten temporären Aussteigern seitdem auch eine Zufluchtsstätte der besonderen Art.

"Angefangen hat alles mit einer kleinen Wohnung und drei Schlafplätzen in einem ehemaligen Werftarbeiterhaus auf der anderen Seite der Kirche", berichtet Schwester Teresa, mit 74 Jahren die Älteste der Karmelitinnen. Heute sind es bereits vier Gästewohnungen mit je drei Zimmern, Küche und Bad, die ausschließlich durch Spenden von Besuchern finanziert werden.

Die Nachfrage ist gewaltig. Es kommen Junge und Alte, 50 Prozent sind evangelisch. Es kommen Ärzte und Manager. Es kommen Frauen, viele zwischen 30 und 40 Jahre alt. Es kommen Menschen mit Bindungsproblemen und Menschen, die eine Auszeit brauchen. Manche Besucher bleiben nur für ein Wochenende. Andere nehmen sich Auszeiten zwischen fünf und zehn Tagen. Eine Frau war schon zehnmal zu Gast, eine andere blieb ein ganzes Jahr.

"Der Rückzug im Kloster ist vollständig, weil es praktisch keine Ablenkung gibt. Die äußere Ruhe ermöglicht innere Einkehr", sagt eine Besucherin, die als Coach für Führungskräfte arbeitet und anonym bleiben will. Für einige Zeit mit den Karmelitinnen zu leben, zu beten, sich aber auch mit ihnen auszutauschen, eröffne die Chance, sich grundsätzlichen Fragen des Seins zu stellen und das eigene Leben zu reflektieren.

Das hat auch Andrea Rösch und Marie Kuschel jüngst für jeweils eine Woche auf die Elbinsel Finkenwerder geführt. Andrea Rösch, 52, eine Gemeindereferendarin aus Solingen, beschreibt es als Auszeit vom permanenten Termindruck. Und als Gelegenheit, Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen. Marie Kuschel, 53, eine Arztsekretärin aus Hannover, bezeichnet es als Flucht aus dem Alltag, als "Zeit nur für mich".

Sich befreien vom Zwang permanenter Erreichbarkeit. Von der Vereinnahmung durch die schicken und hippen neuen Kommunikationsmittel wie Smartphones, Notebooks und Tablet-PC. Sich dem überbordenden Erwartungsdruck in Beruf und Familie entziehen. Eine lange Weile nichts tun als in sich hineinhorchen. Reduziert auf das Wesentliche: auf sich selbst. Das ist es, was immer mehr Menschen auch den Weg ins Kloster auf Finkenwerder finden lässt.

Einer Studie des Karriereportals Stepstone zufolge zeigt deutschlandweit im Schnitt schon rund ein Drittel, in manchen Branchen gar bis zu 50 Prozent der Beschäftigten Symptome des Burn-outs. Einer Studie der Krankenkasse DAK zufolge schlucken 800 000 Menschen in Deutschland regelmäßig Tabletten, um Stress und Konflikte auszuhalten.

"Es gibt da eine große Sehnsucht, die nicht erfüllt wird", sagt Schwester Teresa, gerade bei Menschen, die glauben, alles zu haben. "Vieler Dinge bedarf es doch gar nicht. Wer aufhört, seine vordergründigen Bedürfnisse zu stillen, wer entsagen kann, gewinnt viel. Der findet sich selbst und vielleicht auch Gott." Diese Erfahrung habe sie selbst gemacht, bevor sie sich als 22-Jährige entschloss, Nonne zu werden.

Bei Novizin Katharina, mit 44 Jahren die Jüngste im Bunde, ist es ganz ähnlich gewesen. Als Einzelhandelskauffrau im Naturkostbereich hatte die Buxtehuderin ein gutes Auskommen. Sie ging gern ins Kino, zum Shoppen und zum Tanzen. "Doch irgendwann habe ich in meinem perfekten Wohnzimmer gesessen und fühlte trotz allem eine große Leere." Wer alles habe und alles dürfe, für den werde Freiheit zur Plage. "Außerdem ist das weltliche Leben geprägt von vielfältigen Abhängigkeiten", sagt Schwester Katharina.

Als sie Ostern 2008 das erste Mal zu Gast bei den Karmelitinnen auf Finkenwerder war, wusste sie sofort: "Das ist es." Der gesamte Tagesablauf wird von Gebeten strukturiert, vom Dialog mit Gott. Die kontemplative Glaubensgemeinschaft verzichtet auf soziale und karitative Arbeit, betreibt keinen Kindergarten, keine Krankenpflege, keine Katechese. Sie missioniert nicht, wirbt nicht. Stattdessen legt sie größten Wert auf Stille, Einsamkeit und Anspruchslosigkeit. "So habe ich Atem auch bei ganz normalen Arbeiten. Ich habe Zeit, Ruhe und Luft, ganz bei mir selbst und Gott sein zu können", beschreibt Katharina ihre neu gewonnene Freiheit.

Ende der 90er-Jahre sind die Karmelitinnen gen Norden gezogen, um ihren Glauben transparent zu leben. Zuerst nach Neumünster, dann nach Ahrensburg und in Hamburgs Stadtteil St. Georg, bis sie schließlich auf Finkenwerder Wurzeln schlugen. Weil sie die Trennung von der Welt, ein Leben hinter dicken Mauern und vergitterten Fenstern nicht mehr für zeitgemäß hielten. "Eine Kirche, von der sich immer mehr Menschen abwenden und die mit einem gravierenden Nachwuchsproblem zu kämpfen hat, muss neue Wege gehen, neue Antworten geben", sagt Schwester Teresa.

Diese Art der Öffnung, die Aufnahme von Fremden, sei lange ignoriert und als Experiment argwöhnisch beäugt worden, weiß Schwester Immaculata, 50, die kürzlich zur neuen Priorin im Karmelitinnen-Kloster Hainburg (Hessen) gewählt wurde. Doch schon Papst Benedikt XVI. habe gesagt: "Wenn die Menschen nicht mehr zu uns kommen, müssen wir zu den Menschen gehen."

So lädt die Karmelzelle per Homepage und Flyern, die Schwester Immaculata selbst gestaltet hat, zu speziellen "Stille-Tagen" ein, einer Schweigemeditation mit Anleitung zum inneren Gebet - "dem persönlichen, inneren Gebet, der wichtigsten und schönsten Art des Betens", wie es Schwester Miriam, 48, beschreibt. So darf der Männerverein in der Kirche singen, weil die für ihre exzellente Akustik bekannt ist. Und so ist Teresa seit fünf Jahren auch regelmäßig dabei, wenn auf der traditionsreichen Finkwarder Karkmess das erste Bierfass angestochen wird - zuletzt an der Seite von HSV-Kultmasseur Hermann Rieger.

Die Transparenz im Kloster Finkenwerder hat aber auch Schattenseiten. Seit Jahresbeginn wurde der Opferstock in der St.-Petrus-Kirche schon zweimal aufgebrochen. Nun hat sich Schwester Teresa schweren Herzens entschlossen, das Gotteshaus, das zuvor allen 24 Stunden am Tag offen stand, weitgehend abzuschließen.

"Karmel von der Menschwerdung" haben die Nonnen von Finkenwerder ihr Kloster genannt. In der tiefen Überzeugung, dass sich der Wertekanon in der modernen Gesellschaft sehr verändert hat. Dass es viele Menschen gibt, die ihre innere Mitte verloren haben, die ein orientierungsloses und zuweilen auch maßloses Leben führen. Denen kann ein Ort wie St. Petrus auf Finkenwerder helfen, sich wiederzufinden.