Mit ihrem Lohn-Vorstoß zielt Arbeitsministerin von der Leyen auf SPD-Stimmen

Mit ihrer Forderung nach einem deutlichen Lohnplus hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen die Tarifpartner aufgescheucht - und die schwarz-gelbe Regierungskoalition gleich mit. Selbstredend hat sich die Politik nicht in die Verhandlungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften über Prozente, Extraleistungen und Verträge einzumischen. Dieser Reflex ist so richtig wie die Provokation von der Leyens gezielt.

Es ist allerdings für jeden Durchschnittsdenker sonnenklar, dass die Arbeitnehmer in der Metallbranche, im öffentlichen Dienst und sonst wo ein deutliches Plus verdient haben. Maßvolle Abschlüsse in der Vergangenheit, ein halbwegs robuster Arbeitsmarkt, Milliardengewinne und die gute Auftragslage deutscher Unternehmen machen das möglich. Und mit der Erfahrung der jüngsten Wirtschaftskrisen wird dieses Plus nicht exorbitant ausfallen, aber klar über der Inflationsrate von gut zwei Prozent liegen. Da darf man tatsächlich getrost Gewerkschaften und Arbeitgebern vertrauen.

So besonnen, wie Firmen und ihre Mitarbeiter, Gewerkschaften und Verbände sich durch die Krise tasteten, war es ein Vorbild mindestens für den Rest Europas. Man denke nur an die Automobilbranche, die vorgestern noch um Staatshilfen bettelte und heute Milliardengewinne einfährt. Die Märkte jedoch sind volatil, die Nachfrage schwankt, die Euro-Krise ist allgegenwärtig. Jede Branche muss selbst wissen, ob und welche Investitionen in Köpfe oder Maschinen sich künftig auszahlen könnten. Der Staat wäre garantiert kein guter Unternehmer und ist in der Tarifrunde dem Schweigen verpflichtet.

Doch von der Leyens Vorstoß ist keineswegs der Tabubruch, zu dem ihn mancher Wirtschaftsliberale stilisieren möchte. Abgesehen vom Linken Oskar Lafontaine hatte sich bereits im Herbst 2010 auch der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) für deutliche Sprünge in der Bezahlung der Arbeitnehmer ausgesprochen. Die Ministerin sieht nun in Lohnerhöhungen den letzten Weg, den Bürgern im Laufe der Legislaturperiode mehr im Portemonnaie zu lassen und gleichzeitig die Binnenkonjunktur auf gutem Niveau zu halten.

Das FDP-Steuerversprechen "Mehr Netto vom Brutto" wird eines bleiben. Die Beiträge zu Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung können kaum nennenswert gesenkt werden. Das gibt die alternde Gesellschaft nicht her. Bleiben die Löhne. Von der Leyens Abzählreim orientiert sich am großen Wort von der Gerechtigkeit. Und da wird klar, worauf die Wortmeldung der umtriebigen Ministerin zielt. Sie mag einige Kollegen in der Bundesregierung düpieren, allerdings auch die SPD. Es ist nicht das erste Mal, dass die Ministerin die größte Oppositionspartei überholt. So wird die Arbeitsteilung deutlich: Kanzlerin Angela Merkel deckt den Wirtschaftsflügel ab, ihre Arbeitsministerin die sozialdemokratische Flanke.

Im Rennen um das Amt des Bundespräsidenten war Ursula von der Leyen im Sommer 2010 Christian Wulff unterlegen. Jetzt beißt sie sich lieber die Lippen blutig, als nur ein kritisches Wort zu verlieren über Wulff, seine Affärchen und den dilettantischen Umgang mit ihnen. Mit Merkel, die zunächst ihr das Schloss Bellevue angeboten hatte, hat sich von der Leyen ausgesprochen.

Clever wie ist, wartet sie auf ihre Stunde. Von der Leyen hat den Biss, aber auch das Mitfühlende, das Merkels Politikstil abgeht. Ein Blick für die Anliegen von Kindern, Frauen und Arbeitnehmern insgesamt macht sie zur ersten Gesprächspartnerin für die SPD, falls 2013 eine Große Koalition anstünde. Denn mit Merkel können und wollen die Sozis nicht mehr. Ursula von der Leyen könnte Kanzlerin. Ob die Union insgesamt sich das vorstellen kann, das steht auf einem anderen Blatt.