St.-Pauli-Vizepräsident Spies über HSV, Millionäre, Obdachlose - und einen Trainerkandidaten, der viel zu spät zum Bewerbungsgespräch kam.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. In der 25. Folge vor einer Woche: Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD).

Mitunter zuckt sein rechtes Knie, als wolle er genau jetzt den entscheidenden, den tödlichen Pass spielen. Auf seinem reservierten Platz in der Präsidiumsloge lümmelt sich wie immer längst irgendein Edel-Fan. Bernd-Georg Spies, 57, steht lieber an der Glastür, die Ellbogen verschränkt, den Blick fixiert auf das Spielgeschehen. "Nun spiel doch ab", brüllt er, reißt nur Sekunden später die Arme hoch, als doch noch das erlösende Tor fällt. Eigentlich könnte der Vizepräsident des FC St. Pauli in diesem Moment noch genau dort stehen, wo für ihn vor knapp 30 Jahren alles begann. Drüben auf der anderen Seite des Stadions am Millerntor, Gegengerade, Stehplatz. "Bei einem Spiel gegen Union Solingen 1984 hat es mich irgendwann gepackt", erzählt Spies.

Zum Termin mit dem Abendblatt hat er in sein Büro an der Stadthausbrücke gebeten. Das Interieur mit englischen Stilmöbeln atmet Exklusivität. Als der Abendblatt-Fotograf nach St.-Pauli-Devotionalien wie Bechern oder Schals fragt, winkt Spies ab: "Ein solches Motiv finde ich albern." Posieren will er höchstens vor dem "Niemand siegt am Millerntor"-Bild des Hamburger Künstlers Nils Fischer, das an der Wand hinter der Sitzgruppe mit braunen Sesseln hängt.

Spies mag es durchaus edel, wie auch der kostbare klassische Junghans-Zeitmesser am linken Handgelenk verrät. "Fünf, sechs sehr schöne Uhren habe ich schon. Welche ich anziehe, entscheide ich morgens ganz spontan", sagt er. Beruflich ist er ohnehin zu Hause in der Welt der Aufsteiger und Mächtigen. Weltweit fahndet Spies - Dr. Spies, um genau zu sein - im Auftrag des Personalvermittlungsgiganten Russell Reynolds nach Managern. Vor allem im Bereich Energie zählt Spies zu den Top-Headhuntern in Deutschland.

Eigentlich wäre für ihn rein beruflich gesehen die VIP-Loge des HSV die deutlich bessere Kontaktbörse. Als es ihn Mitte der 80er nach Hamburg verschlug, war er auch mal im alten Volkspark. Aber es hat ihm nicht wirklich gefallen. Vor allem nicht das tumbe "Sieg"-Gegröle aus dem Fanblock, zu dieser Zeit Heimat vieler Rechtsradikaler. Der Rivale vom Kiez bot zwar in der Regel den schlechteren Fußball, aber dafür eine ganz andere Stimmung. "Mich hat immer fasziniert, dass die Fans am Millerntor auch Niederlagen ihrer Mannschaft feiern konnten", sagt Spies. An England habe ihn dies alles erinnert, an seine Zeit in London. Anfang der 80er-Jahre hatte es ihn auf die Insel verschlagen. Der Liebe wegen. Es war das graue England der Thatcher-Jahre, das die Eiserne Lady gnadenlos regiert. Spies studierte im Auftrag eines sozialen Forschungsprojekts die Armutsfront: "Das waren wirklich harte Zeiten." Nebenbei spielte er Fußball auf seiner angestammten Position des Zehners, des Spielmachers. Einer wie Günter Netzer wollte er immer sein, der Stratege, der die Bälle verteilt. Begeistert hat ihn auf der Insel der Sportsgeist: "Vor jedem Spiel haben wir Orangen aufgeschnitten, die wir dann der Gästemannschaft in der Halbzeit gereicht haben."

Dieser "sense of fairness", sagt Spies, habe ihn geprägt. Im Sport, wo er noch heute jeden Sonnabend bei Wind und Wetter mit Weggefährten kickt (ohne Schiri, dafür mit Sohn Christophe, 25, Student) - und im Beruf. Spies hasst es, wenn fürstlich dotierte Manager um Extras wie etwa die Übernahme der Mitgliedsbeiträge im Golfklub feilschen. Und überhaupt müsse man darauf achten, dass die Gehaltsschere zwischen Facharbeitern und Führungskräften nicht immer weiter auseinandergehe.

Den Blick für das große Ganze hat Spies beim Marsch durch die Institutionen - vom Referenten des Deutschen Gewerkschaftsbundes bis zu einem Top-Headhunter - nie verloren. "Ich komme ja selbst aus kleinen Verhältnissen", sagt er. Mama Hausfrau, Papa Maschinenschlosser. Aufgewachsen in Köln in den frühen 60ern, als gesellschaftlicher Aufstieg vor allem eine Frage des elterlichen Portemonnaies war. "Meine Eltern haben mir immer gesagt, das Einzige, was wir dir mitgeben können, ist Bildung", sagt Spies. Trotz des Umwegs über die Realschule - "ich hatte zwar eine Gymnasial-Empfehlung, aber das haben sich meine Eltern dann doch nicht getraut" - schließt er mit 22 sein Wirtschaftsstudium ab. Dann geht es zunächst nach ganz unten, zwei Kilometer tief in eine Saarbrücker Zeche. Spies studiert für ein Forschungsprojekt unter Tage, wie Bergleute mit neuer Technik umgehen. "Ich bin ein Industrie-Romantiker", sagt Spies. Harte körperliche Arbeit hat ihn, der als Student Schwellen für Schienen in den Boden rammte, immer fasziniert.

Alte Industrien werden ihn in den nächsten Jahren nicht mehr loslassen. Und Krisen. Für Arbeiter, die bei den großen Werftenkrisen in den 80ern und 90ern ihre Jobs verlieren, organisiert Spies Umschulungen, gründet Beschäftigungsgesellschaften, kämpft um neue Arbeitsplätze. Am härtesten, sagt er, waren die Jahre in Rostock: "Morgens um 7 Uhr Gespräche mit den Betriebsräten, ab 10 Uhr Gespräche mit Bankern über neue Kredite, nachmittags Verhandlungen in Brüssel für neue EU-Gelder, nachts Sitzungen mit Kabinett und Ausschüssen."

Braucht er Krisen als richtigen Kick? Spies stutzt und überlegt: "Habe ich noch nie drüber nachgedacht. Aber richtig ist, dass ich Krisen immer als Chance zur Veränderung sehe." Der Schlüssel zum Erfolg? "Vor allem Klarheit." Auch unter den Headhuntern sei er "berühmt-berüchtigt" für seine deutlichen Worte - auch bei Absagen an einen Kandidaten: "Nur zu erklären, die Chemie hat nicht gestimmt, finde ich feige." Dann lieber klare Kante, also auch sagen, wenn der Bewerber etwa viel zu viel von sich erzählt hat.

Sind Headhunter-Methoden auf den Sport übertragbar? Spies gießt sich die nächste Tasse Kaffee ein und schmunzelt: "Dazu kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die sich genau in diesem Büro abgespielt hat."

Es ist der Karfreitag 2011, als Spies mit Klubchef Stefan Orth und Sportdirektor Helmut Schulte mit Bewerbern für die Nachfolge von Trainer Holger Stanislawski reden. Auf zwei DIN-A4-Seiten hat der Vorstand zuvor ein präzises Anforderungsprofil fixiert, dann den Trainermarkt gescannt. Personalsuche nach Headhunter-Art - aber verdammt exotisch im Profifußball, wo zumeist alte Kontakte oder eine Art Zufallsgenerator über die Vergabe hoch dotierter Posten entscheiden. Kandidat Nummer eins, leider wird Spies dessen Namen niemals verraten, ist für 10.30 Uhr einbestellt, schlendert jedoch mit 20-minütiger Verspätung entspannt und ohne Entschuldigung zum Gespräch. Spies empfängt ihn mit beißender Ironie: "Gerade an Feiertagen ist die Parkplatzsuche in Hamburg ja besonders schwierig." Der Bewerber ist auch noch dumm genug, diese Frage zu bejahen. "Von dem Moment an", sagt Spies, "hätte der Mann schon einen brillanten Eindruck machen müssen." Was natürlich nicht passiert. Den Zuschlag erhält André Schubert. Kein anderer Bewerber arbeitet den Fragenkatalog - etwa nach gewünschten Neueinkäufen oder möglichen taktischen Änderungen - so präzise ab.

Dass ausgerechnet beim FC St. Pauli, einst Synonym für kreatives Chaos im Profifußball, inzwischen so professionell gearbeitet wird, zählt zu den Verdiensten des Personalprofis Spies. Der tägliche Balanceakt zwischen Kommerz und alternativer Klub-DNA, zwischen Totenkopf und Krawatte, zwischen Sponsoren-Akquise und Gesprächen mit den Ultras, macht das Geschäft indes ungleich schwieriger als etwa das Mandat eines großen Energieversorgers in Personalfragen.

Vielleicht ist einer wie er aber genau der Richtige für diesen Job. Mit der notwendigen kühlen Härte bei Konflikten - aber eben auch so emotional, dass ihn eine Niederlage tief schmerzt. Direkt nach dem Abpfiff sowieso. Und dann wieder bei der Zeitungslektüre am nächsten Tag. "Da kommt dann der ganze Frust wieder hoch", sagt Spies.

Dabei weiß er natürlich in Wahrheit ganz genau, dass es weit größere Probleme gibt als einen verschossenen Elfmeter oder einen Torwart-Patzer. Seit Jahren engagiert sich Spies für die Obdachlosen-Initiative Hinz & Kunzt. "Wenn Sie Zeitungen verkaufen oder Obdachlose im Krankenhaus besuchen, lernen Sie Hamburg von unten kennen", sagt er. Der Perspektivwechsel verändere den Blick aufs Leben: "Früher dachte ich, dass Arbeit der Schlüssel zu allem ist. Jetzt weiß ich, wie viele Menschen durch private Schicksalsschläge aus der Bahn geworfen werden. Denen müssen wir helfen."

Erst die Obdachlosen-Initiative, dann eine Verhandlung mit einem Klienten über ein Millionengehalt - diesen Spagat bewältigt er problemlos.

Mit dem alten Spruch von den zwei Seelen in einer Brust kennt sich Spies schließlich aus. Der Spielmacher zwischen Krawatte und Totenkopf ist Kind einer Berlinerin und eines Ur-Kölners. "Von meinen Vater habe ich geerbt, dass man beim richtigen Anlass auch richtig feiern soll. Von meiner Mutter die preußische Disziplin", sagt Spies.

In drei Wochen, wenn der rheinische Karneval seinen Höhepunkt ansteuert, wird beim Rheinländer das Feier-Gen siegen. Wie jedes Jahr wird Spies dann in die Heimat fahren, verkleidet als Seemann oder Pirat, ausstaffiert mit den Accessoires seines Klubs. Auf die große Feier am Millerntor hofft Spies dann Anfang Mai. Sollte der FC St. Pauli die direkte Rückkehr in die Bundesliga schaffen, wird er wohl ausnahmsweise seinen Stammplatz an der Glastür der Präsidiumsloge verlassen und die Kabine entern. "Die ist ja eigentlich für mich strikt tabu", sagt Spies beim Abschied. Aber in solchen Momenten gehört ein echter Spielmacher eben ins Auge des Triumphs.

Bernd-Georg Spies übergibt den Roten Faden an Hans-Christoph Klaiber, der 2000 die Eventagenturen Nord Event gründete, spezialisiert auf die Ausrichtung von Veranstaltungen: "Klaiber ist ein erstklassiger Unternehmer mit hoher Kreativität. Zudem engagiert er sich in Bildungsfragen."