Woher kommt Bauchweh, und was können Eltern tun? Dr. Emil Branik, 56, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Asklepios-Klinik Harburg gibt Auskunft.

Hamburger Abendblatt:

Bei wie vielen Kindern mit häufigen Bauchschmerzen finden Ärzte keine ernsthafte körperliche Erkrankung?

Dr. Emil Branik:

Man geht davon aus, dass bei 80 bis 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Bauchschmerzen keine organische Ursache gefunden wird. Wir sprechen dann von funktionellen Beschwerden, die bei längerer Dauer als somatoforme Störung bezeichnet werden. Insbesondere Kinder haben die Neigung, Belastungen, welcher Art auch immer, körperlich auszudrücken. Bauchschmerzen sind die häufigsten Schmerzen bei jungen Kindern, bei Jugendlichen werden sie dann von Kopfschmerzen abgelöst.

Welche Belastungen können denn zu Bauchschmerzen bei Kindern führen?

Branik:

Da gibt es keine spezifische Ursachenkette, sondern es können mannigfaltige Probleme genannt werden: schulische Probleme wie Über- oder Unterforderung, Mobbing und Außenseiterstatus, familiäre Belastungen wie Streit oder Todesfälle. Umzüge werden in ihrer Bedeutung häufig unterschätzt, gehäuft tritt Bauchweh in Schwellensituationen auf, beispielsweise beim Schulwechsel. Schmerzen können auch Ausdruck von Trennungsängsten sein oder ein Aufmerksamkeitsbedürfnis ausdrücken.

Welche Hinweise gibt es, dass es sich um funktionelle Bauchschmerzen handeln könnte?

Branik:

Die Diagnose muss ein erfahrener Kinderarzt stellen. Für funktionelle Beschwerden spricht jedoch, wenn das Kind über eher chronische diffuse Schmerzen in der Nabelgegend klagt, wenn die Schmerzen nur tagsüber auftreten, wenn es Hinweise auf emotionale oder psychosoziale Belastungen gibt und wenn kein hohes Fieber, starker Durchfall, eine harte Bauchdecke oder starkes Erbrechen vorliegen. Gleichwohl können Verdauungsbeschwerden, Völlegefühl oder Übelkeit auftreten, ohne dass eine eindeutige körperliche Ursache gefunden wird.

Was sollte passieren, wenn ein Kinderarzt "nichts findet", das Kind aber immer noch über Bauchschmerzen klagt?

Branik:

Für manche Eltern ist es schwierig zu akzeptieren, dass möglicherweise eine psychosoziale Ursache dahintersteckt, und sie vielleicht in ihrer Familie schauen müssen, was nicht richtig läuft. Manche hätten lieber eine körperliche Ursache, die mit Medikamenten behoben werden kann. Sie fühlen sich missverstanden, gehen von Arzt zu Arzt. Das kann aber zu einer Fixierung der Kinder auf das Problem führen und zu einer Chronifizierung der Schmerzen. Kontraproduktiv ist es, Kindern mit funktionellen Bauchschmerzen immer wieder Atteste ausstellen zu lassen, und sie damit von Aktivitäten in der Schule oder beim Sport zu befreien.

Würden Sie denn all diesen Kindern und Familien empfehlen, zum Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen zu gehen?

Branik:

Nein, das wäre ja vermessen. Psychosomatische Reaktionen gehören zum Leben dazu, ohne dass sie immer gleich als Krankheit zu bezeichnen wären. Wer hat in seinem Leben noch nicht mit psychosomatischen Beschwerden reagiert? Aber wenn die Schmerzen schon acht Wochen lang dauern, wenn sie mit einem Rückzug des Kindes von Freundschaften und altersgemäßen Beschäftigungen einhergehen, oder gar zu einer Schulverweigerung führen, dann empfiehlt es sich, umgehend zum Spezialisten zu gehen. Nicht alle Kinder müssen dann länger psychotherapeutisch behandelt werden, vorsichtig geschätzt sind es ein Fünftel der Fälle.

Was man auch wissen muss: Kinder mit somatoformen Störungen haben häufig weitere Auffälligkeiten wie zum Beispiel Ängste, depressive Verstimmungen oder auch Selbstwertstörungen. Diese Kombination bildet den Kernkomplex von Schulphobie, wenn sich das Kind also massiv weigert, in die Schule zu gehen.