Die 84-jährige Hildegard Klünder macht sich für ihr Stadtviertel stark - und das mit feiner Kunst und kämpferischem Einsatz in der Politik.

Hamburg. Mitten in Mümmelmannsberg, in einer kleinen Wohnstraße nahe der Kandinskyallee, steigt man ein paar Stufen hinunter und gelangt in den Künstlerkeller. Hier ist das Reich von Hildegard Klünder - eine ebenso kreative wie eigensinnige, für ihre 84 Jahre noch äußerst muntere Dame mit silbernen Löckchen und schalkhaftem Blick. Seit 30 Jahren gibt sie hier Kurse für Batik und Seidenmalerei.

Zu ihren Schülern zählen Einwanderinnen, junge Mütter und ältere Frauen - bis vor einigen Jahren hat sie auch mit Kindern gebastelt. Langweilig ist es nie in dem intimen Kelleratelier. Hildegard Klünder hat viel zu erzählen. Auch heute sind etliche Frauen gekommen, um nicht nur zu arbeiten, sondern auch von der Reise zu hören, von der sie gerade zurückgekommen ist, einer Kreuzfahrt nach Südamerika.

Zwei Weltreisen hat sie schon hinter sich, Urlaube in Afrika und Asien, auf den Kanaren und in Italien. Seit sie 1969 in einem Ferienklub auf Fuerteventura ihre Leidenschaft fürs Batiken entdeckt hat, fährt sie nur dahin, wo das im Veranstaltungsprogramm angeboten wird. "Ich habe schon in Kenia gebatikt und mit ceylonesischen Künstlern im Urwald von Sri Lanka", erzählt Hildegard Klünder. Ihre Motive findet sie vor Ort: Postkarten oder Zeichnungen einheimischer Künstler kopiert sie auf Stoff und fertigt daraus eindrucksvolle Tier- und Landschaftsbatiken an.

Mittlerweile hat sie den Ruf einer ernst zu nehmenden Künstlerin. Nach Käufern muss sie bei Ausstellungen nicht lange suchen. Etwa bei den Kunst- und Kulturtagen, einer Art Messe für Amateurkünstler, die seit mehr als 30 Jahren in Mümmelmannsberg veranstaltet werden. Oder im Rathaus, wo sie mit einigen weiteren Künstlerinnen aus der Siedlung anlässlich des 30. Jubiläums der Messe Bilder ausgestellt hat.

Viele Bewohner aus Mümmelmannsberg haben im Laufe der Zeit ein großes Interesse an Kunst entwickelt. Dazu haben die Wohnungsbaugesellschaften wesentlich beigetragen - erst die Neue Heimat, jetzt die Saga-GWG. Von Anfang an haben sie unterschiedliche Neigungen im Quartier gefördert und den Mietern dafür kostenlos Räume zur Verfügung gestellt. So entwickelten sich im Laufe der Zeit neben Bastel-, Handarbeits- und Kochgruppen auch vier große Kunstinitiativen, in denen rund 200 Bewohner aktiv malen, fotografieren und batiken: der Künstlerkeller, die Frauenmalgruppe Wir, die Fotogruppe Graukeil und das Offene Atelier. Auch vom Bezirk Mitte und vom Sanierungsbeirat bekommen sie Geld für Material und Ausstellungen.

Wer durch die Straßen von Mümmelmannsberg spaziert, stößt immer wieder auf Kunstwerke der Bewohner: Hasenohren auf Laternenmasten, Skulpturen oder Hochhäuser, an deren Wänden XXL-Kunstwerke prangen und auch mal Filme projiziert werden. Finanziert wird das unter anderem aus dem "Aktivfonds" des Projektbüros ProQuartier. Dessen Aktionen in Mümmelmannsberg wurden 2010 von Handelskammer und Kulturstiftung mit dem KulturMerkur ausgezeichnet. "Das hat auch uns gutgetan", sagt Hildegard Klünder. Denn mit dem Preisgeld lud ProQuartier sie und die anderen Organisatoren der Kunst- und Kulturtage zum Essen ein.

Sie engagiert sich in ihrem Stadtviertel nicht nur als Künstlerin, sondern auch in politischen Gremien. Seit die medizinisch-technische Assistentin vor 30 Jahren aus einem anderen Teil Billstedts nach Mümmelmannsberg zog, macht sie aktiv im Mieterbeirat mit, im Sanierungsbeirat und bei der Stadtteilzeitung "Aktiv Wohnen".

Weil sie immer sagt, was sie denkt, hat sie sich den Ruf einer manchmal recht eigensinnigen und unbequemen Mitstreiterin erworben. "Ich bin eine politisch denkende Frau. Wenn mir was gegen den Strich geht, melde ich mich zu Wort und werde auch gehört", sagt sie. Was ihr komplett gegen den Strich geht, ist, dass es in Mümmelmannsberg trotz 30 Jahre langer Bemühungen noch kein Stadtteilzentrum gibt. "Es muss doch möglich sein, in einem so großen Baugebiet einen Treffpunkt für die Bewohner zu schaffen", sagt sie ärgerlich. Auch dass die Saga angekündigt hat, künftig Geld für die Ateliernutzung nehmen zu wollen, findet sie unmöglich. "Damit würde sie das kulturelle und soziale Leben hier töten", sagt Hildegard Klünder. Es sei nicht einzusehen, dass die Wohnungsgesellschaft auf der einen Seite in den kommenden Jahren 100 Millionen Euro in die Siedlung stecken wolle, auf der anderen Seite aber aus wirtschaftlichen Gründen ihre kulturelle Identität gefährde. "Für die Saga ist es kein großer finanzieller Aufwand, uns zu unterstützen", sagt sie. "Die Mieter aber könnten es sich nicht leisten, für die Nutzung der Gemeinschaftsräume zu zahlen."

Genug geredet. Jetzt will sie den Besucherinnen des Künstlerkellers lieber etwas zeigen. Dieses Mal hat sie von ihrer Reise aber keine neuen Batiken mitgebracht, sondern ein Spiel. Auf ihre rote Krücke gestützt, humpelt sie zu dem Tisch, an dem sonst gemalt wird. Aus einem großen Karton holen die Frauen ein zwei Meter langes Spielbrett und jede Menge Holzscheiben hervor, die wie große Backgammonsteine aussehen. Begeistert lässt Hildegard Klünder die erste Scheibe über das Brett sausen. Am gegenüberliegenden Ende befinden sich Öffnungen zu vier Kammern. Wer die am häufigsten trifft, gewinnt. "Jakkolo" heißt das Spiel. Hildegard Klünder hat sich vorgenommen, ein großes Turnier in Mümmelmannsberg auszurichten. Die alte Dame hofft, dass sich ihre Nachbarn ebenso für das Miteinanderspielen begeistern wie für das gemeinsame Kreativsein.