Eine Glosse von Alexander Schuller

Es ist immer wieder faszinierend, das Selbstverständnis moderner Mütter zu beobachten. Vor allem im Supermarkt, so zwischen 18 und 19 Uhr, wenn alle Kassen besetzt sind und das arbeitende Volk ungeduldig dem Feierabend entgegenwartet. Die moderne Mutter, die ich meine, hatte es schon mal geschafft, einen dreirädrigen Buggy von der Größe eines Smart nebst Einkaufswagen durch die Gänge zu manövrieren, und stand nun vor dem Laufband der Kasse. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Insasse dieser hypopneumatisch gefederten Luxuskarosse überhaupt nicht geschoben werden wollte, sondern juchzend zwischen den Regalen umherlief.

"Finn!", rief die moderne Mutter, "kommst du mal der Mami helfen, bitte?" Erstaunlicherweise reagierte Finn, ein goldgelockter Engel von etwa zwei Jahren, sofort: Weil er nun den pickepackevollen Einkaufswagen ausladen und unter den Augen seiner beglückten Erziehungsberechtigten all die schönen Waren aufs Laufband legen durfte. Jede Mandarine einzeln. Erst als die naturgegebene Kurzarmigkeit ihn an seine Grenzen brachte, griff seine Mutter ein. Sie holte die für Finn unerreichbaren Schätze aus der Tiefe des Einkaufswagens und drückte sie ihm, einen nach dem anderen, in die Hand. Ein bärtiger Mann bemerkte halblaut, er sei noch glatt rasiert gewesen, bevor der kleine Finn angefangen habe, Kaufmannsladen zu spielen. Irgendwo hinten in der Schlange fiel eine alte Frau um, vor Entkräftung wahrscheinlich, und meine Tiefkühlpizza war inzwischen aufgetaut. Erstaunlicherweise muckte aber niemand auf. Wer behauptet eigentlich noch, Deutschland sei kinderfeindlich?