Romero-Ramirez startete er ein einmaliges Projekt. Eine ganze Klasse lernte bei ihm Geige spielen. Am Sonntag hat ein Kinofilm über sie Premiere.

Hamburg. Auf dem Rathausmarkt hatten sie eine große Bühne aufgebaut. Die Sonne meinte es gut mit den Hamburgern beim "Tag der Musik". In der ganzen Stadt wurde an diesem heiteren Juni-Wochenende musiziert. Vor dem Rathaus standen 500 Zuhörer und lauschten der "Hamborger Schietgäng", die ihre plattdeutschen Lieder vortrug. Dann ergriff der Moderator das Mikrofon und kündigte "eine kleine Sensation" an.

Von hinten stolzierten die Kinder auf die Bühne. Die Geige in der linken, den Bogen in der rechten Hand. Immer mehr Mädchen und Jungen drängelten nach vorne, es wimmelte. Schließlich standen 150 kleine Geiger dicht gedrängt in drei Reihen hintereinander auf dem Podest. Wichtige Gesichter, wache Augen, konzentrierte Blicke, gerade Haltung, ruhige Hände. Als die ersten Töne erklangen, verstummten die Menschen. Als ahnten sie, dass sie gerade Zeugen eines einmaligen Projekts waren. Als das Streich-Konzert nach 20 Minuten mit "Kalinka, Kalinka" beendet wurde, löste lauter Applaus das stille Staunen ab.

Ganz hinten verbeugte sich immer wieder ein kleiner fröhlicher Mann. Der dunkelhäutige Pianist in Jeans und Sweatshirt, mit Brille und Halbglatze, war kaum auszumachen hinter all den Kindern und seinem Keyboard, auf dem er die kleinen Musikanten begleitet hatte. "Das ist Gino Romero-Ramirez", rief der Moderator in den Beifall hinein. Manchmal bleiben Helden lieber im Hintergrund.

Als Gino vor 30 Jahren nach Hamburg kam, ist er über den Ozean auf einem Kaffeefrachter hierher gelangt. Sie kamen aus Kolumbien. Sein Vater war Seemann und durfte einmal im Jahr eines seiner fünf Kinder kostenlos auf dem Schiff mitnehmen. Gino war 21 Jahre alt, hatte in Bogota Musikpädagogik studiert, spielte Geige in einem Orchester und wollte unbedingt nach Europa. "Nach Wien", sagt er. Er blieb in Hamburg hängen. Auf St. Pauli. "In Wien war ich letztes Jahr zum ersten Mal", sagt er und lacht. Gino lacht eigentlich immer.

Vom Fenster seiner Wohnung in der Balduinstraße kann er die Hafenkräne und ein Stück vom Dock 10 sehen. Manchmal auch die ganz großen Schiffe. Nach links geht der Blick auf den Hans-Albers-Platz, nach rechts auf die Ganztagsschule St. Pauli. Dorthin kommen Kinder aus aller Welt. Und hier hat alles angefangen.

Das Herz der Stadt hat einige dunkle Flecken. Am Rande der Reeperbahn ist der Alltag eher handfest. Und die zarten Töne sind ein Geschenk. Man kann auch sagen, wenn schon der Himmel über dem Kiez nicht voller Geigen hängt, ist es vielleicht ganz sinnvoll, sie den Kindern einfach umzuhängen. Seit einigen Jahren prägen immer mehr Jungen und Mädchen mit kleinen schwarzen Geigenkästen auf dem Rücken das Stadtbild in St. Pauli und in Altona. Daran muss man sich gewöhnen.

"Ich habe anfangs in der Schule nur Trommelunterricht gegeben", sagt Gino. Als er dem Schulleiter vorschlug, auch Geigenunterricht anzubieten, "war der zuerst sehr skeptisch". Und die Kollegen befürchteten, dass die Kinder die Instrumente kaputt machen könnten. "Das war aber nie ein Problem", sagt Gino. Seda ist jetzt elf Jahre alt und sagt, dass Gino ihr am Anfang erzählt hat, sie solle die Geige so behandeln, als wäre es ein Baby.

Gino ist also in eine zweite Klasse gegangen. "Zuerst haben die Schüler das Instrument nur angeguckt. Viele wussten ja nicht, was eine Geige ist." Dann haben sie erst einmal mit einer Pappgeige geübt. Auf dem Boden lag vor jedem Kind ein Zettel mit den Umrissen der Füße. Die Pinguin-Füße und die Spielfüße, um beim Streichen auch den richtigen Stand zu haben. Rücken gerade, Kopf nach oben. "Wo ist die Bogenhand?" - "Die rechte, richtig Jenny!" Sie fanden auch einen Sponsor für die ersten Geigen. "Die Paul-und-Helmi-Nitsch-Stiftung hat uns sehr unterstützt", sagt Gino.

Als die Kinder zum ersten Mal auf einer richtigen Geige spielen durften, war die Begeisterung groß. "Da hatte ich sie gepackt", sagt Gino. Nach drei Monaten hatten sie ihren ersten Auftritt in der Schule. "Und danach wollten auch die anderen Kinder in der Schule Geige spielen."

Es gibt einfachere Instrumente als die Geige. Es ist schon schwierig, sie unters Kinn zu klemmen und aufzupassen, dass sie nicht ständig wieder runterfällt. Geige ist jetzt nicht wirklich cool. Sie macht keinen Lärm und kommt eher leise daher. Und die eine Hand muss genau wissen, was die andere gerade macht. Sonst klingt alles krumm und schief. "Die Geige fördert das Gehirn der Kinder stärker als jedes andere Instrument", sagt Gino. "Um einen Ton zu erzeugen, bedarf es der Koordination von linker und rechter Hand." Außerdem sei es nur mit Streichinstrumenten möglich, einen Ton während des Spielens lauter oder leiser zu machen. "Die Geige ist deshalb sehr nahe an der menschlichen Stimme."

Als der Japaner Shinichi Suzuki (1898-1998) vor rund 80 Jahren am Kaiserlichen Konservatorium in Tokio Jugendliche im Geigenspiel unterrichtete, galt es als ausgeschlossen, dass Kinder im Vorschulalter das Instrument lernen könnten. Suzuki, der sich das Geigenspielen mit 17 Jahren selbst beigebracht hatte, war anderer Meinung. Wenn kleine Kinder nur durch wiederholtes Hören ihre Muttersprache lernen, müsse das auch mit einem Instrument funktionieren. Folgerichtig vertrat er vehement die These, dass jedes Kind ein Instrument lernen kann. "Talent ist kein Zufall der Geburt", lautete sein Credo.

Suzuki wurde zum Vorreiter des Frühinstrumentalunterrichts und entwickelte eine Methode, die später nach ihm benannt wurde und erst einmal ohne Noten auskommt. Heute lernen Kinder weltweit das Geigenspielen nach der Suzuki-Methode. Mit Farben und Zahlen. Bereits nach kurzer Zeit können sie erste kleine Stücke spielen. Gino Romero-Ramirez ließ sich in der Suzuki-Methode schulen und hält Workshops in mehreren deutschen Städten.

Es gibt genug Geigenlehrer, die von der Methode des Japaners, vorsichtig formuliert, wenig halten. Das Geschrummel in der Gruppe habe mit der so wichtigen Gehörbildung wenig zu tun, kritisieren die Puristen. Manche sagen gar, man versündige sich an den Kindern.

Marianne Petersen, 72, wohnt in einem großen alten Haus in Poppenbüttel. St. Pauli ist ziemlich weit weg von hier. "Es gibt viel mehr Möglichkeiten, Kinder musikalisch zu unterrichten, als wir bisher gedacht haben", sagt sie.

Marianne Petersen hat 40 Jahre lang in Hamburg Kindern und Jugendlichen das Geigenspiel beigebracht. Die Professorin für Violinpädagogik hat an der Jugendmusikschule und an der Musikhochschule unterrichtet und gibt noch immer Einzel- und Gruppenunterricht in ihrem Haus. Ihre Schüler wie Michael Mücke oder Daniel Gaede schafften es ins Deutsche Sinfonieorchester Berlin oder zu den Wiener Philharmonikern.

Die freundliche Frau ist quicklebendig, springt auf, zeigt ihre Notenhefte, singt daraus vor und könnte stundenlang über Klangbildung, die Schulung des Gehörs und das Voraushören von Melodien reden. "Aber das wollen Sie doch alles gar nicht wissen." Was hält sie von Ginos kleinen Geigern? Marianne Petersen hat einen kurzen Film über das Projekt gesehen. "Vor zehn Jahren hätte man vielleicht gesagt, das ist Verrat an der Musik", sagt sie. "Heute sage ich Ihnen, dieses Projekt ist ein Gewinn. Kinder werden durch die Musik befreit." Und hier gehe es vor allem um das Heranführen. An die Musik und an die Bewegung. "Ginos Engagement und seine Begeisterung sind die Garantie dafür, dass ihm das, was er tut, wirklich wichtig ist. Und diese Wichtigkeit überträgt sich auf die Kinder. Sie fühlen sich nicht gehätschelt, sondern ernst genommen und angenommen. Was er hat, ist das wichtigste in der Pädagogik: die Hingabe. Sie ist der Schlüssel für alle Lehrer", sagt sie. Und etwas leiser: "Auch wenn sich das vielleicht noch nicht überall herumgesprochen hat."

Klar, sagt Marianne Petersen, es gehe auch um Kompetenz und Fachwissen. Aber über allem stehe die Liebe zum Kind. Und die Liebe zur Musik. Und dass für die Schüler immer der nächste Schritt erreichbar sein müsse. Sonst brechen sie ab. Und dann seien sie vielleicht für die Musik verloren. Das sei die größere Katastrophe, weil die Musik "Ausdrucksmöglichkeit für ihre Seele" sei. Und weil alle Untersuchungen erwiesen haben, dass musizierende Kinder eine hohe soziale Kompetenz haben. Sie seien kooperativ, teamfähig und hilfsbereit.

Vor der Louise Schroeder Schule in Altona stehen ein paar schräge Vögel. Lustige Skulpturen sind das, und ein buntes Sinnbild für die integrative Arbeit, die hier von den 55 Pädagogen geleistet wird. Die Grundschule mit ihren 425 Schülern gehörte zu den ersten drei Schulen in Hamburg, die sich Pilotschule Kultur nennen durften. Hier wird gebastelt und getextet, getanzt und Theater gespielt. Die Schule kooperiert mit dem Deutschen Schauspielhaus, dem Musikhaus Altona, dem Puppentheater und arbeitet auch mit den "Schlumpern" zusammen, einer Gruppe geistig und körperlich behinderter Malerinnen und Maler.

Michael Rieger, 58, sitzt in seinem Lehrerzimmer. Der groß gewachsene Schulleiter lacht und sagt, er sei leider nicht sehr musikalisch. Dann erzählt er von dem Geigenprojekt und von Seda, die kein Wort Deutsch gesprochen hat, als sie in die Schule kam. Jetzt ist sie von der Louise Schroeder Schule in die 5. Klasse aufs Gymnasium gewechselt.

Natürlich hätten ihr die Musik und die Auftritte in ihrer Entwicklung enorm geholfen. "Das Selbstbewusstsein der Kinder wird durch das Projekt außerordentlich gesteigert. Schüler, die sehen, dass sie etwas können, sind leistungsstärker. Sie ruhen in sich und stehen besser im Leben", sagt Rieger.

Mittlerweile spielen an seiner Schule 160 Kinder Geige und 20 Cello in insgesamt acht Klassen. Das hat immer noch etwas Wunder-bares. Vor allem, wenn sie von den Wochen erzählen, als Gino das Angebot für eine feste Lehrerstelle in einer Schule in Berlin bekommen hat. Viele Jahre hatte er Angst vor der Abschiebung aus Deutschland gehabt. Wenn er heute von dem Moment erzählt, an dem er den Einbürgerungsbescheid bekam, muss er immer noch ziemlich schlucken.

Ähnlich unsicher war jahrelang seine Situation als Honorarkraft an den Schulen in St. Pauli und Altona. Alexandra Gramatka und Barbara Metzlaff haben Gino und seine Geiger drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Und einen wunderbaren Film über "20 Geigen auf St. Pauli" gedreht. Er feiert am morgigen Sonntag Premiere im Abaton-Kino. In einer der bewegendsten Szenen verlässt eine Mutter, den Tränen nah, das Klassenzimmer, als sie erfährt, dass Gino nach Berlin geht. "Gino, das kannst du uns nicht antun." Und Gino läuft ihr hinterher und versucht sie zu beruhigen. Hin- und hergerissen im Gefühlswirrwarr zwischen den Menschen auf dem Kiez, denen er so viel bedeutet. Viel mehr, als er wohl geahnt hat. Und dem Angebot aus der Hauptstadt, endlich eine feste Stelle zu bekommen.

Als sich das herumgesprochen hat, haben ihm die Eltern seiner Geigenkinder Briefe geschrieben. "Und auch die Kollegen haben sich heimlich getroffen und mir einen Brief geschrieben", sagt Gino. Außerdem haben sie bei der Behörde und der damaligen Senatorin Christa Goetsch ein bisschen Druck gemacht, die schließlich dafür gesorgt hat, dass Gino Romero-Ramirez eine feste Stelle als Musiklehrer an der Louise Schroeder Schule bekommen hat.

Eine Stadt, die aufhört, sich um ihre Kinder zu kümmern, tritt die Zukunft in die Tonne. Und wenn man wissen will, warum Musik für Kinder überlebenswichtig ist, muss man mit Wolfhagen Sobirey, 69, sprechen. Wem auch immer einfällt, in Hamburg den Musikunterricht einzuschränken, hat in Sobirey einen mächtigen Feind. Der Lehrer für Musik und Deutsch war 20 Jahre lang Direktor der Jugendmusikschule in Hamburg, ist Professor an der Musikhochschule und sitzt im Präsidium des Deutschen Musikrates. An der Grundschule Döhrnstraße in Lokstedt leitet er ehrenamtlich den Kinderchor.

"Wissen Sie", sagt er, "nach PISA haben alle Kulturleute aufgeschrien. Als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse dürfe jetzt bloß nicht auch noch Musik und Kunst im Unterricht in Deutschland hinten runter fallen." Die Bildung, sagt Sobirey, werde erst durch die Kultur komplett. Die Frage, die ihn umtreibt, ist: Wie können wir dafür sorgen, dass mehr Kinder für Instrumente begeistert werden? Das Instrumentalspiel demokratisieren, nennt er das. "Und das ist das Kostbare an Gino."

Sobirey kann aus dem Stand Hirnforscher zitieren, die den Beweis erbracht haben, dass man nur lernt, wenn man emotional bei der Sache ist. Er weiß, dass durch Musik Stoffe in der betreffenden Gehirnzone ausgeschüttet werden, die den Menschen glücklicher machen. Er spricht von der größeren Lernbereitschaft, wenn Kinder gerne in die Schule gehen. Von der Prävention, wenn Kinder Ziele haben, positive Erlebnisse und sich in eine Gruppe einbinden. Von der wichtigen Wertschätzung, wenn die Kinder spüren, dass ihnen echte Aufmerksamkeit begegnet.

Das Wichtigste aber sei die Begeisterung. Ginos Begeisterung. "Lernen geht nicht ohne Begeisterung", sagt Sobirey.

Wenn man Gino fragt, woher er die Kraft nimmt und die Geduld und die Nerven, lacht er und erzählt erst mal, dass er sich zwar immer auf die Ferien freue, aber schon nach einer Woche wieder unruhig werde. Und dann erzählt er von seiner Kindheit. Wie sie aufgewachsen sind in Cartagena, der Millionenstadt an der Pazifikküste im Norden Kolumbiens. "Wir waren eine sehr große Familie", sagt er. "Alle Türen standen immer offen. Schon morgens war das Haus voll. Ich war nie allein. Das war alles sehr chaotisch, aber es war auch sehr lustig."

Neulich hat Wolfhagen Sobirey einigen Lehrern den Film über das Projekt gezeigt. Und hinterher hat eine Lehrerin in die Runde gefragt: "Guckt euch mal Ginos Augen an. Wie die leuchten - wer von uns hat solch ein Strahlen in den Augen?"

"20 Geigen auf St. Pauli" von Alexandra Gramatka und Barbara Metzlaff. Premiere am 15. Januar um 17 Uhr im Abaton. Start ab 19. Januar im Abaton und im Zeise-Kino. Am 23. und 30. Januar (19 Uhr) sind die Regisseurinnen im Abaton anwesend