Keine Angst vor Berührung: Der Wahl-Hamburger Andreas Hieronymus erforscht als Soziologe Migration und Rassismus in der Hansestadt.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für Hamburg leisten, die als Vorbilder gelten. Den Anfang machte Altbürgermeister Henning Voscherau. Heute in der 24. Folge: Andreas Hieronymus

Das Leben ist kein Ponyhof dort, wo in unserem Land, in unserer Stadt unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Was genau passiert dort, wo die Milieus, Lebensentwürfe, Träume, Sprachen und Möglichkeiten gegeneinanderschrammen, als seien es Kontinentalplatten? Um das zu untersuchen, muss sich jemand ohne Angst vor Berührung direkt in die kritischen Zonen begeben.

Andreas Hieronymus, Leiter des Instituts für Migrations- und Rassismusforschung, wohnt mittendrin in seinem Forschungsfeld. Die Beckstraße ist ein filmreifes Stück Alt-Hamburg im Schanzenviertel, zwischen dem ehemaligen Schlachthof und dem Neuen Pferdemarkt. Eng, kaum autotauglich, die Häuser leugnen ihre proletarische Herkunft nicht. Aber sie sind inzwischen propper herausgeputzt. Seit 25 Jahren wohnt der Soziologe in dieser Ecke, sein geschulter Blick registriert: "Was früher ein Arbeiterviertel war mit Studenten, wird zum Mittelschichtwohngebiet; die Sanierungen vertreiben zum Beispiel die Migranten, aber auch andere Menschen kommen hier nicht mehr vor - schräge Vögel, wie sie auf St. Pauli traditionell zu Hause waren. Die früher ausbalancierte Mischung kippt."

Wenn Hieronymus spricht, hört man sofort: Der Mann hat selbst einen Migrationshintergrund, denn er kommt aus Stuttgart. Beim Kaffee am Küchentisch unterm Dach im dritten Stock stellt sich heraus, dass seine Familiengeschichte noch weitaus bewegter ist. Und dass die Elbe so etwas wie ein verbindender roter Faden darin ist. "Ich bin ein Hamburger Schwabe mit tschechischen Wurzeln mütterlicherseits und italienischen vom Vater her." Seine Familie wurde nach dem Krieg aus der Nähe von Usted nad Labem - Aussig an der Elbe im tschechischen Sudetenland - vertrieben. Einen Teil trieb es nach Leipzig und Torgau, einen anderen über München nach Stuttgart. "Man vergisst das leicht, dass durch den und nach dem Weltkrieg zwölf Millionen Menschen vertrieben wurden und deshalb mit einem Migrationshintergrund leben, den die Gesellschaft bloß verdrängt."

Der Vater, als Kind zur Adoption freigegeben, landete im thüringischen Meiningen. Er hat Hieronymus' Mutter mit seinen drei Kindern verlassen und ging auf ein unstetes Wanderleben. Wollte in den 60er-Jahren eine Farm in Südafrika übernehmen, ging nach Sizilien, wollte nach Amerika und ging schließlich 1969 über Hamburg in die DDR zurück - "das taten damals nur überzeugte Kommunisten, Kriminelle und unterhaltspflichtige Väter". Vier weitere Kinder des Vaters wurden dort geboren. Hieronymus kennt sie inzwischen fast alle: "Je älter ich werde, desto größer wird meine Familie." Er selbst lebt in einer festen Partnerschaft.

Vielleicht liegt es an seiner Familiengeschichte, dass er früh anfängt, sich um Wanderungsbewegungen und die Möglichkeiten, die im Fremden liegen, Gedanken zu machen. Er kommt 1963 zu Welt, wächst in kleinen Verhältnissen auf. "Sozialwohnungsbau, bildungsferner Hintergrund, Sinti und Roma, Griechen, Italiener in der Nachbarschaft - das bringt Kommunikationskompetenz." Er leistet seinen Zivildienst im Ausland. In Irland, noch bevor Globalisierung und Aufschwung das Auswanderungs- zum Einwanderungsland machen. Kümmert sich darum, dass die Kinder der "travelling people", des irischen fahrenden Volkes, lesen und schreiben lernen, dass arbeitslose Jugendliche zur Schule gehen. Noch heute liebt er die irische Musik, beispielsweise von dem Sänger Christy Moore.

Hieronymus kommt aus Irland zurück und studiert, "der erste Akademiker in der Familie", da schwingt schon ein bisschen Stolz mit. Grundstudium in Freiburg, 1987 Umzug nach Hamburg. Und 1989 ein Auslandsjahr an der Bosporus University in Istanbul, einer englischsprachigen Eliteuniversität, die seinem Leben neue Möglichkeiten eröffnet. "Dort hab ich die Wiedervereinigung verpasst", sagt er. Als er zurückkommt, hat sich Deutschland verändert, und Hieronymus hatte Türkisch gelernt. Er pflegt seinen kritischen Blick auf Veränderungen.

In Hamburg promoviert er - darüber, wie in Altona und St. Pauli das Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen die Sprache verändert. "Denn das, was man als falsches Deutsch beschreibt, ist im Prinzip die Vorstufe einer neuen Dialektbildung." Er will wissen: Wie funktioniert diese Mischsprache? Und was bedeutet sie für die Gruppenbildung, für das Dazugehören und das Ausgeschlossensein?

Er machte erstaunliche Entdeckungen: Wer mit einer türkischen Majorität aufwächst, fühlt sich nicht notwendig ausgeschlossen, sondern lernt. "Die eignen sich Stile und Sprachen an, die lernen Türkisch so gut, dass man nur noch fragen kann, aus welcher Region der Türkei kommen die eigentlich? Dabei waren die noch nie dort."

Als Soziologe ist Hieronymus am liebsten draußen. Berührungsangst hat er nicht, er kann Jugendliche in ihrer Sprache ansprechen, kennt die ritualisierten Sprachduelle, wird ernst genommen und erfährt vieles, was anderen verschlossen bleibt.

Er landet beim Institut für Migrations- und Rassismusforschung, gegründet 1990 von einer Gruppe von Frauen, die einen anderen Blickwinkel auf die Veränderungen der Gesellschaft suchten und sahen, dass man in anderen Ländern da viel weiter ist als in der Bundesrepublik, wo nach der Wiedervereinigung erste Gewalttaten gegen Türken und andere Ausländer fassungslos registriert werden. Sie wollen Antworten auf die Frage: Wie muss sich die Gesellschaft ändern, damit die Eingewanderten hier Handlungsfähigkeit und Perspektive entwickeln und ihr Leben optimal gestalten können?

Das Institut sitzt in Ottensen, unterm Dach in der Werkstatt 3, ein gemeinnütziger Verein, alles Freiberufler. "50:50", so sieht Hieronymus seine eigene Arbeit verteilt auf das Heranschaffen von Aufträgen und die Forschungstätigkeit. Das bedeutet vor allem: netzwerken. Er sitzt auch im Vorstand des europäischen Netzwerks gegen Rassismus, das - gestützt auf nationale Netzwerke - in fast 30 Ländern der EU präsent ist. Das Institut arbeitet je nach Projekt in Teams von zwei, drei, fünf, zehn Forschern, flexibel und in der Nähe zur Selbstausbeutung.

Auftraggeber ist entweder die EU-Kommission, die wissen will, wie es um die Integrationsbemühungen bei Migranten steht, um die Bekämpfung des Rassismus. Oder es sind Stiftungen, die sich um die Veränderungen zum Beispiel in Osteuropa hin zu einer offenen Gesellschaft sorgen. Hieronymus sagt: "Deutschland ist nicht ganz so schlimm, wie es von innen aussieht, wenn man's von draußen anschaut."

"Wir erstellen einmal im Jahr den 'Schattenbericht' zum Rassismus in Deutschland, untersuchen dafür Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Gesundheitsmarkt, Polizei und Dienstleistung." Regierungen machen das auch, in Zahlen und Statistiken. Das Institut liefert konkrete Beispiele, Schicksale, Geschichten.

In Hamburg haben sie mit großen Firmen wie Budnikowsky die Einstellungstests untersucht daraufhin, wie strukturelle Barrieren für bestimmte Gruppen wegzuräumen wären. Damit auch Migranten Chancen haben, und die Firmen gute Leute bekommen. "Oft wird ja gar nicht erkannt, was für Potenziale Migranten für die wirtschaftliche Entwicklung mitbringen", sagt Hieronymus.

Die Soziologie am Rand der Kontinentalplatten blickt längst über die Tellerränder. Dafür ist er viel unterwegs. Brüssel, Istanbul, Schweden, Zypern, Palermo, Budapest - Projekte, netzwerkelnde Gespräche, Tagungen. "Wochenenden sind beliebt für Tagungen, manchmal bin ich monatelang kein Wochenende zu Hause. Dann sitzt man in Budapest auf einem Balkon, schaut auf Donau und Parlament und träumt von seinem Kleingarten auf Finkenwerder."

Nahe Airbus liegt seiner, ein paar Tomaten, Walderdbeeren. Ein Refugium im Sommer. "Das ist ein alter Verein, von 1901, glaube ich. Und sehr im Umbruch, ein sehr interessantes soziologisches Feld." Sein Blick bleibt auch in der Idylle analytisch.

Der Mann mit den kleinen Ringen im Ohrläppchen und dem lila Pullunder über dem blasslila Hemd forscht nicht nur, er lehrt auch - an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und bei den Pädagogen an der Universität Hamburg. Dort merke er: Die Studenten jagen oft nur Punkten hinterher, die wollen gar nicht wissen. Dabei gibt es so viele Themen: Zum Beispiel, dass der Wegfall der Mauern zwischen Ost und West in Europa neue Mauern zur Folge hat - an den Außengrenzen der EU. Sie seien, wenn man die ertrunkenen Migranten im Mittelmeer zähle, kaum weniger tödlich, sagt er.

Beim Rassismus hat er vor allem die Islamophobie im Auge, die durch die Anschläge in New York vom 11. September 2001 einen gewaltigen Aufschwung erfahren hat. "Sie ist beim Entstehen des vereinigten Europas", sagt der überzeugte Europäer, "das, was der Antisemitismus beim Entstehen des deutschen Nationalstaats war. Das Problem ist ja immer: Wenn man nicht positiv über sich selber reden kann, ist es immer einfacher, über einen anderen schlecht zu reden. Wir müssen die neue europäische Identität aber positiv bestimmen."

Forschung hat bei Andreas Hieronymus immer etwas mit der eigenen Biografie zu tun, ihn treiben oft Fragen danach, was aus bestimmten Situationen hätte anders werden können, als es gekommen ist. Orte aus der Familienerzählung wie Südafrika oder Palermo sind dann Kristallisationspunkte für Träume, genau wie die biografischen Interviews, die er für seine Untersuchungen macht. "Man misst sich daran, kann manchmal eigene Muster wiedererkennen, lernt viel über sich selbst."

Soziologe zu sein, sagt er, ist "nicht nur eine Karriere, sondern eine Art, mit meiner Biografie umzugehen, mich in meiner Umwelt zu positionieren." Es sind immer auch seine persönlichen Fragen, mit denen er die Welt untersucht und ihren Mechanismen auf die Spur kommt.

Andreas Hieronymus bekam den roten Faden von der Hamburger Imamin Halima Krausen.

Er reicht ihn weiter an Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD), weil er wissen will, wie die Bürgerschaft die Absichtserklärung der "Koalition gegen Diskriminierung", der Hamburg im Sommer beigetreten ist, mit Leben füllen will.