Für Jan Kocian wurde der Kiezklub zum Sprungbrett ins tschechische WM-Team. Höhepunkt war das Viertelfinale gegen Deutschland.

Zufall oder nicht - auf jeden Fall hat diese Begegnung das Leben des Jan Kocian auf den Kopf gestellt. Als der tschechische Nationalspieler 1988 bei einem Turnier in Malaysia den Hamburger Wolfgang Kuhlmann traf, konnte er nicht ahnen, dass dieses Gespräch das wichtigste seiner Karriere werden sollte. Denn es führte ihn im Grunde bis ins WM-Viertelfinale 1990 in Italien gegen Deutschland. "Das Spiel meines Lebens", sagt Jan Kocian.

"Können Sie sich vorstellen, nach Hamburg zum FC St. Pauli zu wechseln?" Als Wolfgang Kuhlmann, der im vergangenen Vierteljahrhundert weltweit unzählige Fußballer von A nach B vermittelt hat, Jan Kocian auf der anderen Hälfte des Globus ansprach, musste dieser nicht lange überlegen: "Natürlich."

Schließlich war St. Pauli gerade in die Bundesliga aufgestiegen. Und, was noch viel entscheidender war: Kocian erfüllte die drei Voraussetzungen, um - ein Jahr vor der Maueröffnung - als einer der ersten Fußballer durch den Eisernen Vorhang in den Westen zu schlüpfen. "Ich war 30 Jahre alt, hatte mehr als 200 Erstligaspiele für Dukla Banska Bystrica in der CSSR absolviert und mindestens 25 internationale Berufungen."

Und St. Pauli hatte die nötigen 170 000 Mark, um sich nach einem Probetraining die Dienste des groß gewachsenen, technisch starken Abwehrspielers zu sichern.

Allerdings durfte Kocian, der in seiner Heimat Psychologie und Pädagogik studiert hatte und das Ausland nur von den Länderspielen mit der Olympiaauswahl und der Nationalmannschaft kannte, zunächst nur alleine ausreisen. "Für mich war damals alles neu", erzählt er. Die vollen Geschäfte, das Hotel direkt an der Reeperbahn, das Autofahren in einer Millionenstadt. Dazu das viel intensivere Training bei dem Bundesliga-Aufsteiger und die Sprache, "obwohl ich auch etwas Deutsch in der Schule gelernt hatte".

Drei Monate später kamen seine Frau und sein damals sechsjähriger Sohn Jan - ein Jahr später wurde Tochter Michaela geboren - nach Hamburg. Und da war Kocian aus der Kiez-Elf schon nicht mehr wegzudenken. Auch wenn er immer wieder mit waghalsigen Aktionen in der eigenen Hälfte bei Trainer Helmut Schulte für nasse Hände sorgte. "Ich wollte den Ball nie nur hinten rausdreschen. Ich wollte die schwierigen Situationen immer spielerisch lösen und das Spiel von hinten ordnen", sagt Kocian.

Er tat das so gut, dass die Millerntor-Elf am Ende der Saison sensationell Platz zehn belegte. Und Kocian, der in 28 Spielen auch zwei Treffer erzielt hatte, die er jedes Mal mit einem Salto feierte, war einer der besten Liberos der Liga. Und mit einem Mal auch wieder für den tschechischen Nationaltrainer Jozef Venglos interessant.

"St. Pauli war mein Sprungbrett zum Stammplatz in der Nationalmannschaft", sagt er. Und da die sich in der WM-Qualifikation - unter anderem gegen Portugal - durchgesetzt hatte, durfte Jan Kocian mit 32 Jahren zur Fußball-Weltmeisterschaft nach Italien.

Und St. Pauli hatte plötzlich einen WM-Teilnehmer.

Auch wenn der vor dem Turnier nicht hundertprozentig fit war. "Ich hatte große Probleme mit der Achillessehne, aber ich wollte natürlich unbedingt dabei sein." St. Paulis Mannschaftsarzt Peter Benckendorff machte es möglich. "Bencki hat mir bestimmt 100 Spritzen verpasst", sagt Kocian und lächelt.

Was hatten sich die Tschechen für die WM ausgerechnet? "Wir wussten nicht, wie stark wir sind, als wir nach Italien fuhren", sagt Kocian. Die Basis aber war die starke Abwehr, die kaum Gegentreffer zuließ - und er war der Chef. Das erste Spiel gegen die USA gewannen Kocian & Co. 5:1, und nach dem 1:0-Sieg gegen Österreich war die nächste Runde erreicht. Im dritten Spiel, beim 0:2 gegen Italien, wurde Kocian geschont. Im Achtelfinale wartete Costa Rica. "Wir gewannen in Bari 4:1", sagt er, "das war das leichteste Spiel für uns bei dieser WM."

Und dann kam das Viertelfinale gegen Deutschland.

Kocian erinnert sich als Erstes daran, dass er damals für seinen Trainer Helmut Schulte zwar eine Karte besorgt hatte, ihm diese aber vor dem Spiel nicht mehr übergeben konnte, weil sich beide einfach nicht zu fassen gekriegt hatten. Und richtig erleichtert war, als er Schulte dann während der Nationalhymnen plötzlich doch auf der Tribüne erkannte. "Unter 70 000 Zuschauern habe ich meinen St.-Pauli-Trainer entdeckt. Unfassbar. Er lächelte, und ich grinste zurück."

Dann aber war der Spaß vorbei. "Die Deutschen haben das Spiel dominiert, wir mussten zweimal auf der Linie retten - und zweimal, glaube ich, trafen sie nur den Pfosten." Dem Elfmeter allerdings, der den Mannen von Teamchef Franz Beckenbauer den 1:0-Sieg durch Matthäus bescherte, ging laut Kocian "eine Schwalbe von Klinsmann" voraus. Schließlich sah auch noch einer seiner Mitspieler die Rote Karte - und mit zehn Mann schafften die Tschechen in der zweiten Halbzeit - "da waren wir klar besser" - fast noch den Ausgleich. "Franz tobte an der Linie, aber keiner der deutschen Spieler hat ihn gehört", erinnert sich Kocian, der nach dem Spiel das Trikot mit Augenthaler tauschte.

Am Ende hätten die Deutschen aber verdient gewonnen, und er tröstete sich damit, "gegen den späteren Weltmeister" ausgeschieden zu sein. "Mit Völler, Klinsmann, Brehme, Häßler, Kohler, Littbarski und vor allem Matthäus, der in der Form seines Lebens war, hatten die Deutschen vielleicht die beste Mannschaft aller Zeiten."

Aber auch Kocian, der später als Co-Trainer in Köln und Frankfurt gearbeitet hat und derzeit auf Jobsuche ist, war auf dem Höhepunkt. Der sympathische und überall beliebte Sportler wurde 1990, sozusagen als Krönung, zum "Fußballer des Jahres" in der Tschechoslowakei gewählt. Für das Land und deren Nationalmannschaft hatten die starken Auftritte bei der Weltmeisterschaft - und die politische Öffnung ein Jahr zuvor - übrigens ziemlich verheerende Folgen. "Sämtliche Nationalspieler und auch alle Ersatzspieler aus dem WM-Kader sind nach dem Turnier zu europäischen Klubs in den Westen gegangen", sagt Kocian.

Dorthin also, wo er schon war. Und die Deutschen haben ihn auch danach nicht mehr losgelassen. Sein Abschiedsspiel aus der Nationalmannschaft bestritt Kocian 1992 in Prag - 1:1 endete die Partie gegen Deutschland. Er wohnt mit seiner Frau in Pulheim bei Köln, der Sohn studiert in Düsseldorf, die Tochter in Köln.

Und vor drei Jahren kam dann alles zusammen. Als Nationaltrainer der Slowakei traf Jan Kocian im Juni 2007 in der EM-Qualifikation auf Deutschland. In Hamburg. "Mehr ging nicht", sagt Kocian heute - trotz einer 1:2-Niederlage. "Hamburg ist nach wie vor meine Stadt Nummer eins. Hier habe ich angefangen, westliche Luft zu schnuppern. Und bei St. Pauli habe ich meine schönste Zeit als Fußballer erlebt."