Was die geplante Gebührenerhöhung für eine Familie bedeutet, die auf Hilfe angewiesen ist. Birte Müller, Mutter eines Sohnes mit Down-Syndrom, hat einen offenen Brief an Sozialsenator Wersich geschrieben. Das Abendblatt druckt Auszüge ab.

Mein Sohn Willi ist im März drei Jahre alt geworden. Seitdem geht er in den Kindergarten, und ich komme wieder dazu, die Zeitung zu lesen. Ein Luxus, der mir in den vergangenen drei Jahren kaum vergönnt war.

Zu meinem Entsetzen habe ich im Hamburger Abendblatt gelesen, dass der Senat plant, die Kita-Gebühren zu erhöhen und auch Familien mit einem behinderten Kind den vollen Satz abzuverlangen. Mein Sohn ist eines dieser behinderten Kinder. Er hat das Down-Syndrom mit einer Reihe schwerer Nebenerkrankungen.

Die erfolglose Suche nach einer geeigneten Tagesbetreuung hat unser Leben monatelang geprägt. Nun darf Willi endlich in den Kindergarten gehen. Es ist kein Integrationskindergarten, Willi ist in einer Gruppe mit acht weiteren behinderten Kindern.

Wir wohnen in Hamburg-Volksdorf, der schöne integrative Kindergarten in der Nähe wollte unseren Sohn nicht nehmen. Wussten Sie, dass sich Kindergärten ihre Integrations-Kinder aussuchen können? Diese Kinder müssen sich vorstellen, werden begutachtet - und womöglich abgelehnt. Außerdem ist der Andrang in einigen Einrichtungen sehr groß. Der nächste Platz für Willi in einem integrativen Kindergarten wäre in Steilshoop gewesen - vorausgesetzt, sie hätten Willi dort genommen.

Ich finde es sehr schade, dass unser Sohn nicht in unserer Gegend in den Kindergarten gehen kann. Die Nachbarskinder stehen nicht gerade Schlange, um mit Willi zu spielen. Er ist eben anders, sieht anders aus und verhält sich anders. Trotzdem möchte auch er mit Kindern spielen. Doch auf vielen Spielplätzen machen wir die Erfahrung, dass andere Kinder (und teils auch deren Eltern) mit Willis stürmischer Art schlecht umgehen können. Wir stoßen auf Ablehnung. Das macht mich oft sehr traurig.

Willi braucht Kinder, die ihn kennen und die er kennt. Diese Gruppe konnte er leider nur in einer Kita, die zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt liegt, finden. Schon bei der Suche nach einer Kinderkrippe in unserer Gegend ist uns zum ersten Mal klar geworden, dass es eine wirkliche Gleichberechtigung behinderter Kinder in Hamburg nicht gibt. Im Krippensystem, also für Kinder unter drei Jahren, ist es offensichtlich gar nicht vorgesehen, dass behinderte Kinder betreut werden. Es ist, als existierten sie gar nicht. Ein behindertes Kind braucht mehr und besonders qualifizierte Betreuung, aber die Behörde zahlt dafür kein zusätzliches Geld an die Kitas. Als Eltern ist man also darauf angewiesen, dass die Krippen Kinder wie Willi freiwillig aufnehmen. Wir brauchten diesen Kita-Platz so dringlich. Ich kann nur schwer beschreiben, in was für einem Zustand unsere Familie sich in den letzen Jahren befunden hat. Ich glaube, es dringt nur wenig von den Problemen, die Familien mit behinderten Kindern haben, an die Öffentlichkeit. Ich möchte mich nicht beschweren, denn ich liebe mein Kind. Und trotzdem erschwert es mein Leben. Ein Grund, sich in der Öffentlichkeit nicht über seine Probleme zu äußern, ist der oft versteckte Hinweis von außen, dass man für die Behinderung seines Kindes doch indirekt selbst verantwortlich sei, da die moderne Pränataldiagnostik "so etwas ja nicht mehr nötig macht".

Außerdem gibt niemand gern zu, dass er mit seinen Kindern überfordert ist. Wir Eltern von behinderten Kindern müssen schon deswegen nach außen Stärke zeigen, da Mitleid das Letzte ist, was wir gebrauchen können.

Willis erstes Lebensjahr war geprägt von schweren Krankheiten und Operationen. Mehr als anderthalb Jahre hatte unser Sohn einen Luftröhrenschnitt, der eine 24-stündige Intensivbetreuung notwendig machte. Nachts saß an seinem Bett eine Kinderkrankenschwester, tagsüber waren wir da. Viele Monate verbrachten wir mit unserem Sohn in Krankenhäusern, eine schwere Diagnose folgte auf die andere. Irgendwann bekam ich eine Überlastungsdepression. Doch neben der enormen psychischen Belastung, die es mit sich bringt, ein Kind mit einer Behinderung zu haben, bedeutet es auch mehr Arbeit und Sorge.

Kaum ging es Willi gesundheitlich endlich etwas besser, wurde ich erneut schwanger. Es war komplett überfordernd, beide Kinder zusammen zu betreuen. Mein Mann konnte kaum arbeiten, da ich ihn zu Hause brauchte. Wir merkten, dass es so nicht weiterging und machten uns, wann immer es unsere Zeit und Kräfte erlaubten, auf die Suche nach einer Tagesbetreuung für unseren Sohn. Hätten wir nicht die Unterstützung von Familie und Freunden gehabt, ich weiß nicht, ob ich die Zeit überlebt hätte. Ich erlitt eine weitere schwere Depression, wurde stationär behandelt. Mein Mann blieb fünf Wochen mit unserem Sohn allein zu Hause, und als ich entlassen wurde, hatte er ein Burn-out.

Willi braucht einfach die volle Aufmerksamkeit eines Erwachsenen. Sich noch um irgendetwas anderes zu kümmern, ist einfach nicht möglich. Willi ist hyperaktiv, den ganzen Tag ist er auf den Beinen und kann nie auch nur fünf Minuten am Stück still sitzen. Er kann nicht sprechen, nicht selbstständig essen und nicht Bescheid geben, wenn er auf die Toilette muss. Aber Willi kann Türen öffnen und läuft sofort auf die Straße. Er ist in keinem Punkt mit einem normalen Dreijährigen zu vergleichen. Willi ist nicht einfach ein kleiner Wirbelwind, er ist ein Orkan, er ist ein Tsunami!

Ich will nicht jammern und ich will auch keine guten Ratschläge. Ich wünschte nur manchmal, anderen Menschen wirklich deutlich machen zu können, wie unser Leben aussieht. Ich habe aus Spaß in den letzen Monaten, bevor Willi endlich in den Kindergarten gehen konnte, gesagt, dass ich einen Abreißkalender habe, an dem ich jeden Tag ein Stück unten abschneide, bis Willi endlich in die Kita gehen darf - so wie die Wehrpflichtigen beim Bund es tun!

In den letzten drei Jahren ist fast alles andere auf der Strecke geblieben, ich war nicht beim Arzt, wenn es nicht unbedingt sein musste, ich habe keinen Sport getrieben, ich kann die Treffen mit Freunden oder Abende, an denen ich allein mit meinem Mann ausgegangen bin, an einer Hand abzählen. So ungern ich es mir auch eingestehe: Wir brauchen Hilfe, mehr Hilfe als andere Familien. Und wir bekommen auch Hilfe. Von der Krankenkasse, von der Pflegekasse - und wir brauchen sie auch, denn immerhin wollen wir noch ein paar Jahre durchhalten.

Der Kindergarten ist eine enorme Hilfe. Dieser Kindergartenplatz, den wir bekommen, ohne rechnen zu müssen, ob wir ihn uns leisten können, ist der einzige kleine Vorteil, den ich anderen Müttern gegenüber habe, deren Kind nicht behindert ist. Er ist das kleine bisschen Luxus, das ich habe, um wieder zu mir zu kommen. Können Sie sich vorstellen, dass ich auf der verzweifelten Suche nach einem Krippenplatz für meinen Sohn zweimal das Angebot bekommen habe, ihn in ein Heim zu geben? Ist das die Alternative zur Tagesbetreuung für überforderte Eltern behinderter Kinder? Der Heimplatz würde mich auf jeden Fall nichts zusätzlich kosten, aber den Staat kostet er ein Vielfaches von dem, was die Tagesbetreuung von Willi im Kindergarten kostet.

Ich will meinen Sohn nicht abgeben, ich möchte mit ihm leben. Und ich will auch die letzen drei Jahre nicht missen, denn es waren wichtige Jahre, in denen ich so viel gelernt habe. Zum Beispiel, dass ich einen Menschen wie meinen Sohn in seiner ganzen scheinbaren Unvollkommenheit als wahrhaft perfekt erkennen kann! Und wenn sich jemand fragt, ob ein Kind wie Willi denn heute wirklich noch nötig ist, dann möchte ich laut hinausschreien: Ja, er ist nötig, unsere Gesellschaft braucht ihn heute mehr als jemals zuvor! Lernt ihn kennen und ihr lernt zu lieben!

Ich glaube, dass fast alle Eltern eines behinderten Kindes einen Teil ihrer Geschichte in der unseren wieder finden. Die meisten sind wie wir bis in die letzte Faser ihres Körpers erschöpft.

Wir leiden ohnehin an den erhöhten Ausgaben, die ein behindertes Kind mit sich bringt. Und jetzt sollen wir die Steuerlöcher stopfen? In jedem Wahlkampf höre ich, dass Familien entlastet werden sollen, und jetzt werden gerade wir belastet! Ist das die neue Form der Gleichberechtigung?