Die Ohlendorffs waren einst die reichste Familie der Hansestadt. Sie bauten Hamburgs erstes Kontorhaus mit Paternoster.

Hamburg. Die Aufregung war immens: Als der Dovenhof, das erste Kontorhaus Hamburgs, anno 1886 eröffnet wurde, verblüffte er die Hanseaten mit einer schockierenden Neuheit: Zwischen den Stockwerken verkehrte der erste Paternoster des europäischen Festlandes. Nicht allen Mietern war das geheuer. Viele liefen jahrelang lieber zu Fuß, und in den Zeitungen wurde der "Teufel der Neuzeit" inbrünstig verflucht.

Die "Hamburger Nachrichten" trugen nicht gerade zur Beruhigung bei: "Kommt man einen Augenblick zu spät, so muss man einen Sprung machen, wobei es gar nicht ausgeschlossen ist, dass man sich den Schädel zerschmettert. Kommt man zu früh, so kann man ganz leicht ein Bein zwischen Stuhl und Wand bekommen, wodurch das Bein zerquetscht werden könnte."

Andere Pluspunkte im "Comptoir-Haus" überzeugten mehr. Zum Beispiel die großzügigen Lichthöfe zwischen den Kontoren, die schweren Mahagonibänke auf den Fluren, ein Postamt, eine der ersten modernen Rohrpostanlagen, eine eigene Stromversorgung - und nicht zuletzt zwei Schankwirtschaften im Parterre. Direkt daneben wohnte Hausmeister Karl Reimer, im damaligen Sprachgebrauch Kastellan genannt. Und sein Sohn, Bernd Reimer (84), präsentierte jetzt einen Schatz, der sogar die Profis des Hamburgischen Architekturarchivs am Brooktorkai in der Speicherstadt in Erstaunen versetzte. Die 125 Jahre alte und seit Dekaden verschollene, einstmals im Fundament des Dovenhofs aufbewahrte Eisentruhe beinhaltet vergessen geglaubte Dokumente unbezahlbaren Inhalts: Urkunden, Mietverträge, penible Notizen über den Bau sowie Briefe zwischen dem Architekten Martin Haller und dem Auftraggeber Heinrich Freiherr von Ohlendorff. Auch uralte Kontorbücher legen Zeugnis ab von Mentalität und Wagemut der hanseatischen Kaufmannschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das nahe gelegene Freihafengelände bescherte den Pfeffersäcken frischen Wind für einträgliche Geschäfte. Motto: Mit der Heimat im Herzen die Welt gewinnend umfassen.

Ein Paradebeispiel dieser ehrbaren Zunft ist die Familie der Ohlendorffs, deren Blüte und Habitus den Buddenbrooks in Lübeck nicht unähnlich ist. Nicht zufällig parallel zur Übergabe der Dovenhof-Schatzkiste stellte die Hamburger Kunsthistorikerin Karin von Behr ihr just in der Edition Temmen erschienenes Buch "Die Ohlendorffs - Aufstieg und Untergang einer Hamburger Familie" vor. Was Sinn macht, da der Dovenhof lange Zeit Erkennungszeichen für den grandiosen Reichtum der Dynastie war - am Ende jedoch auch den Kollaps der Sippe dokumentierte.

Welche das Kunststück fertigbrachte, und das gefiel den Hanseaten schon damals, buchstäblich "aus Schiete Gold zu machen", wie es hieß. Die Basis dieser wirtschaftlichen Meisterleistung legte der Stammvater, Johann Heinrich Ohlendorff. 1788 im niedersächsischen Dorf Evern geboren, zog es den ebenso begeisterten wie talentierten Gärtner um 1820 nach Hamburg. Zusammen mit Ehefrau Johanna Wilhelmine Theodora und neun Kindern lebte er in einem Strohdachhaus im neu angelegten Botanischen Garten am Dammtor. 600 Taler Salär gestatteten ein kommodes Dasein.

Ein Leben in Saus und Braus ergab sich erst, als Johanns Söhne Albertus und Heinrich eine geniale Geschäftsidee gebaren. Eher als andere begriffen sie, dass Dünger nicht nur für Pflanzen ein guter Nährboden ist - sondern auch für den eigenen Wohlstand. Vom Vater mit dem Faible für Flora und Fauna ausgestattet, zudem von einträglichem Erwerbssinn geprägt, wurden sie binnen weniger Jahre schwerreich. Mit einer Armada von Segelschiffen importierten die Brüder Ohlendorff im großen Stil Guano. Zuhauf und vor allem gratis abbaubar lagerte diese Mixtur aus Exkrementen, Vogelkadaver und Federn auf den Chincha-Inseln vor Peru. In reiner Form, indes ebenfalls als chemisch erschlossenes Düngemittel, stand Guano in Europa hoch im Kurs.

Nach dem Konkurs des Hamburger Handelshauses Mutzenbecher mit Firmensitz an der Ferdinandstraße 56 übernahmen Albertus und Heinrich Ohlendorff das Unternehmen und schafften es binnen kurzer Zeit, das Guano-Monopol innezuhaben. Zwischenzeitlich lagerten in Steinwerder mehr als 40 Millionen Tonnen Guano. Kassenbücher belegen, dass Ohlendorff & Co. allein zwischen Mai 1871 und Mai 1872 genau 140 Schiffsladungen des goldenen Vogeldrecks aus Übersee importierten. Konsequenz: Der Reichtum mehrte sich.

Die Familie Ohlendorff, im Volksmund "Guanoritter" genannt, galt als reichste der Stadt. Eine Art Kassensturz 1884 ergab unter dem Strich ein Grundkapital von 16 Millionen Mark. Fabriken im Großraum Hamburg, in London, Antwerpen sowie am Rhein mit zusammen mehr als 1000 Arbeitern trugen dazu bei, dass es noch mehr wurde. Die Investition von gut einer Million Mark für den Bau des Dovenhofs schlug da nicht allzu schwer zu Buche.

Pecunia non olet (Geld stinkt nicht). Das konnte und durfte sich sehen lassen. Im damaligen Prominentenstadtteil Hamm wurde 1872 vom Baugestalter und Bürgermeistersohn Martin Haller eine Residenz errichtet, die einem Schloss ähnelte.

Gekrönte Häupter, Adelige, Künstler und natürlich Senatoren kamen oft und gerne in die Salons der Ohlendorff-Residenzen. Die süffigen Festivitäten im Hause waren in erlauchten Kreisen legendär.

Außerdem hatten die "Guanoritter" ein gesundes Gespür, ihr Beziehungsgeflecht zu hegen. Bismarck ging ein und aus. Formvollendet bedankte sich der Reichskanzler für kleine Aufmerksamkeiten aus Hamburg-Hamm: Zigarren, Weintrauben, Orchideen von eigener Scholle. Dem Senat wurden Marmorbüsten überreicht, die noch heute im Rathaus zu sehen sind. Zum Beispiel von Kaiser Wilhelm I., Moltke und eben Bismarck. "Habe immer etwas Gutes im Sinn!" steht als Wahlspruch über dem Portal einer weiteren Ohlendorff-Villa in Volksdorf. Mit den Wirren des Ersten Weltkrieges brachen die Geschäfte zusammen - ebenso wie die enge Verbindung der beiden Brüder. Auch ob abnehmenden Vermögens war mit den Ohlendorffs nicht ganz so viel Staat zu machen wie zuvor.

Aber man hatte genug, um das Leben formidabel und fidel zu genießen. Wie auch der 1880 geborene Schöngeist Hans von Ohlendorff bewies. Intensiv frönte er seinen beiden Passionen, der Musik und der Freimaurerei. Hans pflegte eine enge Freundschaft mit dem Komponisten Max Reger und betätigte sich leidenschaftlich in der Johannisloge "Zum Pelikan". Parallel betrieb er eine bekannte Baugesellschaft. Erst im Alter von 68 Jahren heiratete er die sieben Jahre jüngere Irene. Bei einem Verkehrsunfall am 20. April 1967 starb Hans von Ohlendorff als Letzter der Dynastie. Er war 86 Jahre alt geworden. Auf der Gruftplatte des Familien-Mausoleums in Ohlsdorf steht geschrieben: "Suche und finde Deine Glückseligkeit im Glück und in der Freude Anderer." Am 27. März 1967, knapp einen Monat vor dem Ableben des letzten Ohlendorff, machte eine Abrissbirne den Dovenhof dem Erdboden gleich.