Abendblatt-Reporter Thomas Andre würfelt sich über das Heiligengeistfeld. Ziffern entscheiden über Fischbrötchen oder Karussell.

Hamburg. Die Geräuschglocke aus Fiepen, Klingeln, dumpf vibrierendem Lautsprecherknarzen und dem ratternden Sausen der Fahrgeschäfte hängt über dem Heiligengeistfeld. Der Himmel ist märzig: mal grau, mal blau. Das Wetter kann sich nicht entscheiden. Wir greifen in die Jackentasche und zücken den Würfel. Heute soll er unser Führer sein, Handlungsanleitung auf dem Rummel der 1000 Möglichkeiten, deren Kern freilich aus zwei Grundbedürfnissen besteht: Essen und Amüsement. Welchen Eingang nehmen wir, Glacischaussee oder Feldstraße? Ziffern 1, 2 oder 3: erste Alternative, 4, 5, 6 Möglichkeit zwei. Wir würfeln die 2 und marschieren los. Die Sonne lässt sich jetzt doch sehr entschieden blicken. Unser Willensbildungsprozess folgt zunächst recht einfachen Parametern: Wir lassen die Klobatterie direkt hinter dem Eingang schnell hinter uns, Reize der angenehmen Art finden wir hier ganz bestimmt nicht. Wir gehen auf Knobeltour und würfeln uns über den Dom, aber stinken soll's doch bitte nicht.

Der Zufall, in diesem Fall die 6, schickt uns zu einem Kraftpaket, das gerne mal die Keule schwingt. Freilich nur noch zu Anschauungszwecken. Denn Hans-Jürgen Schroeder haut den Lukas nicht mehr richtig. Der Jugend Maienblüte ist verwelkt, und die Kraft lässt nach im Alter. "Wir Schausteller hauen nur einarmig, leider ist mir dabei einmal die Sehne gerissen", sagt der Mann und grinst. Unseren Würfelspaß nimmt er schulterzuckend zur Kenntnis, er hat wohl schon viel gesehen in seinen Jahren auf dem Rummel. Seine Kraftprüfungen nimmt er erst seit zehn Jahren ab. "Vorher hatte ich eine Gebäudereinigungsfirma, dann erfüllte ich mir meinen Traum und ging zum Dom."

Der Steppke vor ihm hat auch einen: Er will seine Muskeln auf die Probe stellen. "Bling" macht es, die Feder schnellt nach ganz oben. Schroeder nickt zufrieden, und direkt nebenan rattert die Achterbahn durch den Hamburger Himmel.

Die 3 wird gewürfelt. Auf zur Frittenbude, zum Glück ist es nicht das Gurkenfass geworden. Renato Krakor, ein 20-jähriger Bursche aus Neumünster, schmeißt Kartoffelstäbchen in spritzendes Fett. Er muss das tun, denn das macht Eindruck beim Vater der Freundin. Dem gehört das Familienunternehmen. Wie gut, dass Krakor gerne Pommes frites mag, "die könnte ich jeden Tag essen".

Wenn er es tut, dann arbeitet sein Stoffwechsel gut. Der Bengel ist gut in Form und spurtet wieder in die Bude, es wartet Kundschaft. Auf uns wartet Esmeralda, direkt gegenüber. Wir haben die 1 gewürfelt. Esmeralda ist Wahrsagerin und hat ihren Wagen mit Teppich ausgelegt. Viel wichtiger ist aber das, was sie auf ihren Tisch legt, während die sanft pubertierende Tochter Scarlet daneben sitzt und skeptisch blickt: Karten. Karten, die einem das eigene Leben vorlesen, das vergangene und das zukünftige. Esmeralda sagt: "Ich habe die Gabe von meiner eigenen Mutter geerbt, ich liebe meinen Job." Scarlet sagt: "Ich glaube noch nicht dran, aber den Job werde ich wohl später auch einmal machen."

Sie sehe beim Kartenlesen, was das Herz bewege, sagt Esmeralda dann auch noch, während ein kleiner Erdball vor ihrem Busen baumelt. Unser Herz bewegt die Spiellust: Wir würfeln uns weiter. Die 4 bringt uns zu "Moni's Zuckerladen". Leider hat der Deppenapostroph seinen Weg auf den Wagen der Süßigkeitendealer gefunden, Yanine Clauß seufzt und sagt: "Umlackieren wäre ein zu großer Aufwand." Der Augenaufschlag der 41-Jährigen ist ganz hübsch, sie verkauft hier Liebesäpfel, unter anderem. Und Lebkuchenherzen - am meisten Zuspruch findet "Ich liebe Dich". Das muss wohl so sein.

Dann bäumt sich der "Airwolf" vor uns auf, eines dieser fiesen Dinger, die einen als selbstbewusst aufrecht gehenden Menschen aufnehmen und als schwankende Schwundstufe eines Großstädters wieder ausstoßen. Mit Schlagseite, als käme man gerade aus einer Seefahrerspelunke. Der "Airwolf" ist eine Art Schiff, das quer in der Luft hängt, an langen Kraken aus Kunststoff oder Stahl. Die können einem den Magen umdrehen, wenn sie die Richtung des Schiffs ändern. Es wird einem vom Zusehen schlecht. "Die Raupe" dagegen rauscht einfach vorbei, immer in dieselbe Richtung. Das sollte machbar sein. Wir lassen den Würfel entscheiden. Schweißnass ist die Hand wider Erwarten nicht, aber die Hoffnung ihres Herrn ist eindeutig: Es möge doch bitte keine der Ziffern 1 bis 3 auf der anderen Hand aufschlagen, bitte nicht. Es ist die 6, Glück gehabt.

Wenn einem selbst die träge Gemütlichkeit des Riesenrads Angst macht, ist aber auch das Betreten eines glitzernden Karussells eine Mutprobe - vergleichbar mit dem Wagnis, ohne Netz auf einem Seil von einem Wolkenkratzer zum anderen zu latschen. Der Fotograf feuert mich an, und ich gebe alles. Die "Raupe" schwirrt ein paar Runden, danach schleiche ich tastenden Schrittes davon.

Sodann: durchpusten. Die eigene Befindlichkeit überprüfen. Status Quo vadis: Es geht. Wir gehen zur Fischbude. Hat der Würfel entschieden. Jetzt müssen wir mal checken, ob es ein Lachsbrötchen wird oder eine Fischfrikadelle. Der Würfel fällt auf die Erde und ist erst mal nicht auffindbar, dann nehmen wir eben beides. Scooter und "Powertower" - ein Turm, der einen auf eine heftige Reise nach unten schickt, uns zuckt beim Zuschauen das Gedärm, "Shaker" und Co.: Von allen Seiten des Rummels schallen die Hinweise, dass es sich beim jeweiligen Fahrgeschäft um "eine Weltsensation" handele: "Steigen Sie ein, links oder rechts, ganz wie Sie wollen." Entscheidung über Entscheidung muss hier getroffen werden, viele Unentschlossene flanieren über den Dom. Im Zweifel entscheiden die Kinder, ein Muss: Schmalzkuchen, den gibt es überall.

An der Ballerbude versuchen wir uns im Schießen: Die Schüsse peitschen, fünf Treffer - keine Ahnung, wie das zustande kam. Welches Plüschtier soll's denn sein, das gelbe Küken oder der rosa Bär? Der inzwischen geübte Würfelschwung unserer Hand befördert flugs das possierliche Bärchen in unsere Jutetasche, na bravo. Danach rücken wir vor zum "Action", "Könnt ihr noch?", röhrt der Animateur über den Lautsprecher, während sich der Kreisverkehr des glitzernden Karussells auf Berg-und-Tal-Fahrt an uns vorbeidengelt. Nein, wir können eher nicht mehr; ganz im Gegensatz zu den Teenagern, die jede neue Runde begeistert begrüßen. Heißa, was für ein Vergnügen. Manfred Ohlrogge versucht sich gar nicht erst in der hohen Kunst des Überredens. Wird wohl das Grüne im Gesicht sein. Ohlrogge gehört dieses Gaudigerät seit 31 Jahren, im vergangenen hat er den Dom erstmals ausfallen lassen. "Da waren wir im Hyde Park in London", erzählt der 46-Jährige, der jeden Morgen selbst noch in sein Karussell steigt und überprüft, ob alles rund läuft.

Sogar die auf der Insel haben das Teil gemocht, da hat sich der Aufwand doch gelohnt. Wir ziehen weiter und können uns nicht entscheiden, ob die 5 die Bude auf der rechten oder linken Seite meint. Wird eben noch mal gewürfelt. Es gewinnt: die Teilnahme am virtuellen Pferderennen. Was leider dafür sorgt, dass die gebrannten Mandeln eine wohlduftende Ansichtssache bleiben. An uns vorbei ziehen die fettigen Duftmarken von "Brat-Haus" und "Wurst-Palast", haben die da bei der plumpen Namensgebung auch gewürfelt? "Komm'Se ran, hamm'Se Fun", ruft uns ein Budenbesitzer zu. Der Spruch is'n Sechser, ganz klar.