Es fing harmlos an, auf dem Schulhof mit dem Münzwerfen. Heute zockt der 17-jährige Daniel die Nächte am Glücksspielautomaten durch.

Die Skyline von New York erhebt sich im Licht der aufgehenden Sonne. Der Fingerabdruck einer Stadt. Chrysler Building, Rockefeller Center, Empire State Building. Daniel* sieht die Gebäude nur im seichter werdenden Rausch der Nacht. Den Puls noch immer hochgetrieben von den bunten Bildern und stampfenden Rhythmen der vergangenen Stunden. Geblendet von den blinkenden Lichtern der Automaten. Daniel ist müde.

Er schaltet den Fernseher aus. Die ganze Nacht hat er ihn laufen lassen. Damit seine Mutter nicht merkt, dass er gar nicht zu Hause, nicht im Bett ist. Wenn die Zimmertür geschlossen ist, betritt sie sein Zimmer nicht. Das haben Mutter und Sohn so abgemacht.

Sie hätte es betreten sollen.

Denn Daniel ist unterwegs. Jede zweite Nacht. Von Mitternacht bis zum Morgengrauen sitzt er auf den bequemen Ledersesseln vor den Automaten. Links der Aschenbecher, rechts ein Glas Cola. Die Luft ist verraucht, die Fenster sind abgedunkelt. Damit der Bezug zur Zeit verloren geht. Daniel ist 17 Jahre alt. Und er ist spielsüchtig.

Wann wird ein Mensch zum Spieler, wann wird aus dem Spiel eines Jugendlichen eine Sucht? Daniels Mutter Irene* hat sich diese Frage immer wieder gestellt. In den vielen Tagen und Nächten seit dem Überfall. Dem Tag, an dem alles herauskam. Und auch sie erfuhr, dass ihr Sohn eben nachts nicht daheim vor dem Fernseher saß, sondern in einer Barmbeker Spielhalle.

Im Rückblick lässt sich vieles erklären. Die Vita des jungen Mannes aus dem Hamburger Norden setzt sich Kapitel für Kapitel schlüssig zusammen. "Die Sucht ist nur das Ventil, mit dem Daniel versucht, seine Probleme auszudrücken", sagt Anneke Aden. Aden ist 31 Jahre alt, Assistenzärztin der Jugendsuchtstation im UKE. Sie kam ins Spiel, als Daniel aussteigen wollte. Aussteigen musste. Weil er zur Gefahr für andere zu werden drohte.

"Daniel hat schon als kleiner Junge um Geld gespielt", sagt seine Mutter. "Zehn-Cent-Stücke haben die Jungs in den Pausen gegen die Wand geworfen. Derjenige, dessen Geldstück am weitesten absprang, durfte den Rest einsammeln." Das war in der siebten Klasse.

Aus dem kleinen dunkelhaarigen Jungen ist inzwischen ein kräftiger junger Mann geworden. Einer, der Lee-Jeans trägt und nach Armani duftet. Der Marlboro raucht und Abitur machen will. Wenn da nicht dieser Drang wäre.

"Das erste Automatenspiel habe ich in einem Café gemacht", erzählt Daniel. "Das Ding stand da so rum, und wir haben es einfach mal ausprobiert." "Wir" - das sind Daniel und ein paar Freunde, mit denen er die Nachmittage verbringt. Zwischen schmucklosen Reihenhäusern aus rotem Backstein, Sozialwohnungen, Hochhäusern und wenig Grün. In Daniels Straße gibt es Hunderte Haustüren. Eine sieht aus wie die andere.

Für Abwechslung sorgen die nachmittäglichen Treffen. Erst im Café. Dann in der Spielhalle. Erst gemeinsam, später allein. "Es ging mir um Zeitvertreib", sagt Daniel. "Und es war lustig. Es ging nicht nur ums Geld." Fünf bis zehn Euro verspielt der 17-Jährige pro Tag. Aus dem Ausprobieren wird Regelmäßigkeit. Aus den Nachmittagen werden Nächte. Nächte, in denen zu Hause der Fernseher läuft.

Aus zehn werden hundert, aus hundert werden tausend Euro. Aus einer Leidenschaft wird eine Sucht.

Daniel sitzt auf dem beigefarbenen Sofa in der kleinen Dachgeschosswohnung, die er sich mit seiner Mutter teilt. Ein ganzes, zwei halbe Zimmer. Vom Wohnzimmer geht der Blick auf das angrenzende Hochhaus. 14 Stockwerke, vergilbte Gardinen. "Allein kommt man da nicht raus", sagt er über seine Spielsucht. "Man muss sich helfen lassen." Erst als er sich seiner Mutter und schließlich einer Therapeutin anvertraut, wird aus seiner Sucht eine Suche.

"Innerhalb von nur drei Monaten zeigte Daniel heftige Symptome", sagt seine Therapeutin. "Er war auffällig unauffällig. Aber hinter dieser Fassade verbarg sich ein Junge mit großer Identitätsentwicklungsstörung."

Daniels Leben ist voller Brüche, die er mit dem Spiel zu kompensieren versucht. Der erste liegt 16 Jahre zurück. Daniel war gerade ein Jahr, als sein Vater ihn und seine Mutter verließ. Nur in den Sommerferien besuchte er seinen Papa, den Mann, der ihn gezeugt hatte und dessen Arme die ersten waren, die ihm nach der Geburt im Hochsommer 1992 Halt gaben. Ihn fest umschlossen an diesem ungewöhnlich heißen Sommertag, als Daniel, das Wunschkind, im Eilbeker Marienkrankenhaus geboren wurde.

Zwölf Jahre später verlässt dieser Mann seinen Sohn zum zweiten Mal, weil seine neue Partnerin den Kontakt verbietet. Und er sich diesen Kontakt verbieten lässt. "Ich habe keinen Vater", sagt Daniel. Er verleugnet ihn, weil es gerade der Vater ist, der den Weg des Jungen durch Abwesenheit und Ablehnung geprägt hat. Der Vater, der selbst ein Spieler ist. Und der sich nicht einmal um seinen Sohn kümmert, als Daniels Therapeutin ihn bittet, zu kommen.

"Die Ablehnung des Vaters hat ihn zerbrochen", sagt seine Mutter. "Daniel hätte ihn gebraucht." Als wichtigen Elternteil. Als Regulativ. "Als männliche Bezugsperson und Hilfe bei der Suche nach Identität", sagt Therapeutin Anneke Aden. "Daniel neigt zu Größenfantasien. Er ist unrealistisch, träumt davon, Eliteinternate im Ausland zu besuchen, Millionär zu sein. Auf der Suche nach Identität, die bei ihm gestört ist, probiert er das aus, was der Vater macht. Er spielt."

Im Spiel schließe sich für Daniel die schmerzliche Lücke zwischen dem, was er sein möchte, und der Person, die er wirklich ist, sagt Aden. Wenn die Automaten rattern, die Münzen fallen, fühle er sich mächtig, unbesiegbar. Und reich.

Die Realität aber sieht anders aus. Daniel und seine Mutter leben von 1300 Euro im Monat. 720 Euro davon gehen allein für die Miete weg. Die Mutter spart, wo sie nur kann. Denn ihrem Sohn mag sie keinen Wunsch abschlagen. 20 Euro Taschengeld gibt sie ihm pro Woche. Sie ermöglicht Reisen, neue Schuhe, Parfüm. Und verzichtet selbst auf so vieles, damit es ihrem Sohn gut geht.

Auch das war ein Fehler, sagt sie. Denn Daniel lernt keine Grenzen kennen. Es gibt für ihn kein "genug". "Er ist verwöhnt", sagt seine Therapeutin. "Und glaubt, alles sei möglich." Auch das Unmögliche. Daniel beginnt, beim Automatenspiel seine Bedürfnisse auf eigene Faust zu befriedigen. Er schwänzt die Schule, geht schon am Vormittag in die Spielhalle. Manchmal verbringt er dort den ganzen Tag und die Nacht. "Meine Gedanken kreisten nur noch ums Spielen", sagt er. Das Geld für den Einsatz leiht er sich bei Freunden. Meistens bezahlt er es zurück. Auch das Taschengeld landet im Automaten. Wird eingeworfen wie eine Droge, auf die er süchtig gewartet hat.

Der Fachverband Glücksspielsucht (FAGS) registriert eine zunehmend größere Anzahl von beratungs- und behandlungsbedürftigen Glücksspielsüchtigen. Einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge gibt es in Deutschland 600 000 süchtige Glücksspieler. "Die Glücksspielsucht in Deutschland ist zu einem ernsten psychosozialen Problem geworden", sagt FAGS-Verbandschefin Ilona Füchtenschnieder. Immer wieder seien in den Spielhallen auch - gegen das Gesetz - Minderjährige zu sehen. Jeder zehnte Hamburger Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren spielt regelmäßig Glücksspiele. Sie wetten, spielen Online-Poker, zocken am einarmigen Banditen und anderen Spielautomaten. 54 Euro setzten die Jungs dafür durchschnittlich pro Monat ein.

Bei Daniel variiert die Summe. Die 20 Euro Taschengeld sind jedoch ausschließlich fürs Spiel vorgesehen. Auf diese Geldquelle verlässt er sich. Doch an einem Dienstag im März 2009 bleibt der Nachschub aus. Seine Mutter hat kein Geld im Haus. "Du bekommst es später", sagt sie zu ihrem Sohn. Merkt, wie dieser nervös wird, angespannt das Haus verlässt. Zwei Stunden später klingelt das Telefon. Es ist die Polizei. Daniel hat einen bewaffneten Raub begangen. Mit einer Spielzeugpistole haben er und sein Freund einen Jugendlichen auf der Straße bedroht. Das Spiel ist vorbei.

"Wir haben zu Hause über alles gesprochen. Daniel hat mir erzählt, dass er in die Spielhalle geht", sagt seine Mutter. Sie habe ihn angefleht, aufzuhören. Doch sie weiß auch, wie schwer das für ihren Sohn ist. "Also bin ich selbst losgegangen in die Spielhallen, damit die ihn nicht mehr reinlassen", sagt sie. Fotos hat sie verteilt, die Betreiber auf das Glückspielverbot für Minderjährige hingewiesen. "Einige haben mich ernst genommen, andere milde lächelnd weggeschickt. Einer hat mir sogar Hausverbot erteilt, mit dem Hinweis, dass ich mein Kind wohl nicht im Griff hätte. Ich habe ihn angezeigt."

FAGS-Verbandschefin Ilona Füchtenschnieder rät betroffenen Eltern, neben einer Anzeige beim Ordnungsamt auch das Geld von den Betreibern zurückzufordern: "Es ist eine Schweinerei, Kinder abzuzocken." Auf der Seite der Gewinner sei immer der Spielhallenbetreiber. Und die Stadt. Auf jeden Einsatz werden in Hamburg fünf Prozent Spielvergnügungssteuer erhoben. 2008 flossen auf diese Weise 15,42 Millionen Euro in die Stadtkasse plus 29 Millionen Euro Spielbankabgabe.

Sabine Glawe, Vorsitzende des Hamburger Automatenverbands, will die Geschichte so nicht glauben. Nicht wahrhaben, dass es jugendliche Glücksspieler wie Daniel gibt. Die ihre Zeit in Spielhallen verbringen, die für Jugendliche unter 18 Jahren verboten sind. "Wir nehmen das Problem ernst", sagt die aparte Frau mit den langen braunen Haaren. "Bei uns kommt kein Minderjähriger rein." Wenn eine Spielhallenaufsicht den Jugendschutz nicht einhalte, verliere sie ihren Job. Das Schicksal des Jungen sei höchst bedauerlich, jedoch weiß Gott nicht der Regelfall.

Die Realität ist offenbar ganz anders. Daniel ist minderjährig. Er kennt Dutzende Spielhallen in Hamburg - und alle von innen. "Es gab nie Probleme", sagt er. "Keiner wollte meinen Ausweis sehen, keiner hat mich gefragt, warum ich nachts nicht im Bett liege und morgens die Schule schwänze."

"Viele Betreiber achten nicht auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen", kritisiert Professor Rainer Thomasius. Thomasius ist ärztlicher Leiter der Abteilung Suchtstörungen in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im UKE. Der 52-Jährige beschäftigt sich in letzter Zeit vermehrt mit dem Phänomen des jugendlichen Spielers. Auf der einen Seite die pathologischen Internet-Spieler im Rollenspiel, auf der anderen Seite der typische Glücksspieler bei Online-Poker und am Automaten. "Glücksspieler sind Menschen, die eine von sich selbst überzogene Vorstellung in Sachen Grandiosität haben", sagt er. "Menschen mit einem hohen Idealselbst, das mit der Realität nicht im Einklang steht." So eine Sucht zu erkennen sei viel schwieriger als bei Alkohol oder anderen Drogen. Oft vergingen Jahre, bis die Eltern etwas merkten.

Bei Daniel sind es nur acht Monate. Es folgen sieben Wochen stationäre Therapie. Wochen, in denen er sich zeitweise auf eigenen Wunsch "einsperren" lässt, um seinem Suchtdruck nicht zu erliegen.

Daniel hat seine Geschichte aufgearbeitet, er ist stabil und braucht das Spiel nicht mehr, sagt seine Ärztin im September. "Er zeigt einen guten Behandlungserfolg." Daniel geht wieder in die Schule. Und sitzt nachts zu Hause vor dem Fernseher, sagt seine Mutter. Er will das Gymnasium beenden, irgendwann viel Geld verdienen. "Ich träume von New York", sagt Daniel. Die Skyline kennt er schon. Sie hängt als Wandtattoo in seinem Zimmer.

Alles scheint auf einem guten Weg.

Im November hat Daniel seiner Mutter 300 Euro aus dem Portemonnaie geklaut. Er hat das Geld verspielt.

*Namen geändert