Seine Organe liegen auf der falschen Seite. Diverse Herzfehler wurden mehrfach operiert. Die Geschichte eines Optimisten.

Hamburg. Zwei Papierkörbe dienen auf dem Spielplatz der Eppendorfer Kinderherzklinik als provisorisches Fußballtor. Die Kinder, die jüngsten sind gerade vier Jahre alt, haben sich vor dem Tor aufgestellt. Es ist mucksmäuschenstill. Ein Elfmeter steht bevor. Der Schütze: Can Atasoy. Er läuft quer über das Feld. Täuscht links an. Mit dem rechten Fuß holt er aus und schießt. Weit vorbei. Die Kinder stürzen sich auf ihn. Sie jubeln und kreischen. Für den jungen Mann spielt es keine Rolle, ob der Ball das Tor trifft. Er ist hier, um Zeit mit den Kindern zu verbringen. Er will sie, wenn auch nur für einen kurzen Moment, aus ihrem Krankenhausalltag befreien. "Ich habe die Hälfte meines Lebens hier verbracht", sagt Can. "Für mich war es immer das Größte, wenn wir draußen Fußball spielen durften." Er hat das Herz auf dem rechten Fleck.

Am 5. Februar 1987 kommt Can Atasoy als einer von zweieiigen Zwillingen im UKE zur Welt. Sein Zwillingsbruder wird gesund geboren. Aber Cans Herz schlägt nicht. Die Ärzte müssen den Säugling wiederbeleben.

Von Geburt an leidet Can an drei seltenen Krankheiten. Alle seine Organe befinden sich spiegelverkehrt auf der anderen Seite seines Körpers. Sein Herz schlägt also rechts - und so richtig funktionieren will es nicht. Seine rechte und linke Herzkammer sind ebenfalls vertauscht. In der Herzscheidewand klafft ein Loch. Eine der vier Herzklappen funktioniert nicht. Sein Herz schlägt zu langsam. Statistisch gesehen ist das Auftreten all dieser Krankheitsbilder bei einem einzelnen Menschen extrem unwahrscheinlich. Aber unwahrscheinlich ist eben nicht unmöglich.

Ohne Operation wird er sterben. Nach den ersten Eingriffen schätzen die Ärzte seine Lebenserwartung auf höchstens neun Jahre. Sie haben ihn unterschätzt. Er ist jetzt 23 Jahre alt.

Doch er zahlt einen hohen Preis: 14-mal wurde Can bisher operiert, verbrachte immer wieder Monate im Krankenhaus."Wenn du nichts machen kannst, außer im Bett zu liegen, siehst du, wie das Leben der anderen sich verändert. Du selbst musst wieder und wieder von vorne anfangen." Frust? Wut? Keineswegs. "Mich spornt das an." Cans Augen strahlen bei diesen Worten. Der 1,60 Meter große Mann wirkt plötzlich viel größer: "Ich erreiche mein Ziel vielleicht nicht zeitgleich mit den anderen, aber ich komme an!"

Die kämpferischen Worte stammen von einem, dessen Herz jeden Augenblick aufhören könnte zu schlagen. Von einem HSV-Fan, der wie so viele als kleiner Junge unbedingt Profi-Fußballer werden wollte. "Aber das geht halt nicht." Wie vieles andere auch. Richtig zeigen, wie er sich damit fühlt, will Can nicht. Er lächelt. Die Enttäuschung in seinen Augen kann er nicht verbergen. Can will der Starke sein. Der, der sich nicht unterkriegen lässt. "Niemand hat etwas davon, wenn ich den ganzen Tag denke: Ich könnte morgen tot sein."

Can umklammert das Leben mit beiden Händen. Unerreichbare Träume lässt er ziehen. Trauert ihnen nicht nach. Stattdessen schafft er sich neue Ziele. Aufrecht steht er, während um ihn herum vieles zerbricht.

Cans Zwillingsbruder ist körperlich gesund. Aber Cem Atasoy ist seelisch gebrochen: Er leidet an Depressionen. Er hat sich zurückgezogen in seine eigene Welt. Spricht mit niemandem. "Wir haben uns immer um Can gekümmert", sagt der Vater. "Cem wurde dabei unabsichtlich vernachlässigt." Mittlerweile lebt er in einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Problemen. Seit Jahren leidet er an einer Essstörung. "Die Ärzte sagen, mein Sohn schreit mit seiner Krankheit nach Aufmerksamkeit", sagt Erzat Atasoy. "Damit er auch ins Krankenhaus darf, hat Cem sich, als er noch klein war, immer gewünscht krank zu sein. Wir hätten damals besser wissen müssen, was in ihm vorging." Cans 54-jähriger Vater denkt oft zurück. Wie das Leben hätte verlaufen können mit zwei gesunden Kindern, mit mehr Zeit für die Familie, für Freunde, für die Karriere. Erzat Atasoy trauert manch unerreichten Zielen hinterher. Unbewusst gibt er vielleicht seinem Sohn die Schuld. Trifft Can das? "Meine Eltern hatten es nicht leicht mit mir", sagt er. "Ich kann sie verstehen. Sie haben keine Kraft mehr."

Kraft ist es, worum Cans Mutter in ihren täglichen Gebeten bittet. Der jahrelange Kampf um das Leben ihres Sohnes und die ständige Angst, ihn jeden Augenblick verlieren zu können, haben Spuren hinterlassen. Nezaket Atasoy lacht fast nie. Ihr Blick ist traurig. Eigene Träume und Ziele hat die 50 Jährige nicht mehr. "Meine Kinder sollen ein glückliches und gesundes Leben führen", sagt sie, den Tränen nahe. "Mehr möchte ich nicht." Can fällt es schwer, seine Mutter seinetwegen weinen zu sehen. "Wenn es mir jetzt gut geht, ist es doch erst mal egal, was morgen ist. Jetzt kann ich doch machen was ich möchte. Kein Grund, traurig zu sein."

Ein einzigartiger Mensch. So urteilt Prof. Dr. Jochen Weil, Direktor des Universitären Herzzentrums am UKE, über Can. "Nicht nur wegen seiner Krankheitsgeschichte. Es sind sein innerer Lebenswille, sein Mut und die Freude am Leben, die ihn ausmachen und am Leben halten." Wenn Can heute das Kinderherzzentrum des UKE betritt, ist das "wie ein Heimspiel" für ihn. Die Krankenschwestern kennen ihn alle. Sie freuen sich, ihn zu sehen und begrüßen ihn wie einen alten Freund. "Wie läuft es beruflich?", möchte Krankenschwester Rita von ihm wissen. Mit dieser Frage trifft sie einen wunden Punkt. "Ich suche einen Ausbildungsplatz", antwortet Can. Er versucht dabei, so selbstbewusst wie nur möglich zu klingen.

Mittlerweile hat Can trotz derber Rückschläge die Handelsschule abgeschlossen. "Mit einer Ausbildung oder einem Job ist das so eine Sache", sagt er später. "Die suchen zuverlässige Leute und wollen, dass man flexibel ist. Und belastbar." Mit einer 60-prozentigen Behinderung sei das schwer. Aufgeben werde er deswegen nicht. "Ich möchte Einzelhandelskaufmann lernen. Ich kann gut mit Menschen umgehen, bin gut im Verkaufen." Schon hat Can sich wieder gefangen. Immer wenn ihm der Mut droht zu entgleiten, geht er in sich. Er begreift, wie viel Glück er hat. "Ich hatte im Krankenhaus Freunde, die nicht so krank waren wie ich", erinnert sich Can. "Die sind trotzdem vor mir gestorben."

Die Ärzte und Schwestern der Kinderklinik hätten ihm immer Mut gemacht: "Die haben mir jeden Tag gesagt: 'Can, wenn einer das schafft, dann du.' Ich habe mich dann immer besonders gut gefühlt. So, als wäre ich richtig stark." Deswegen ist es ihm heute umso wichtiger, anderen kranken Kindern Mut zu machen. Mit einigen von ihnen kickt er regelmäßig auf dem Spielplatz der Kinderherzklinik. Er geht in Selbsthilfegruppen für herzkranke Kinder und deren Eltern. Can erzählt dann seine Geschichte. Er zeigt den Betroffenen ein lebendes Beispiel dafür, dass es sich lohnt zu kämpfen. Can überzeugt mit seinem Auftreten. Stets in Hemd und Leinenhosen gekleidet, mit sorgfältig zurückgekämmtem Haar, sieht er den Menschen, mit denen er spricht, direkt in die Augen: "Ich müsste schon seit 14 Jahren tot sein. Bin ich aber nicht."