Fünf Töchter und Söhne haben Sabine Fandrey und ihr Mann großgezogen. Nun geben sie fremden Kindern aus Problemfamilien ein Zuhause.

Es gab Mütter, die gingen, ohne Tschüs zu sagen.

Die Mutter von Kevin* und Jolina* weinte, als sie ihre Kinder vor fünf Monaten zu den Fandreys brachte. Die 22-Jährige ist depressiv, leidet unter Angstzuständen, konnte nicht mehr allein Bus fahren, nicht mehr allein zu Hause bleiben, wie sollte sie noch für ihre Kinder sorgen.

Die Väter der Kinder? Nicht da. Die Großeltern? Nicht da. Die Freunde? Haben selbst Probleme. Es blieben nur Menschen wie die Fandreys, um Kevin, 18 Monate alt, und Jolina, vier Jahre alt, aus der akuten Notsituation zu befreien.

Familie Fandrey ist ein gesellschaftliches Auslaufmodell. Sabine und Frank Fandrey haben fünf gemeinsame Kinder, die Großeltern wohnen in der anderen Hälfte des hell geklinkerten Doppelhauses in Hamburg-Niendorf. Alle verstehen sich, es ist ein bisschen wie im Bilderbuch. "Ohne diesen Zusammenhalt könnten wir diese Aufgabe nicht bewältigen", sagt Sabine Fandrey.

Sie und ihr Mann kümmern sich um fremde Kinder; sind da, wenn keiner mehr für sie da ist; schenken ihnen ein Zuhause und Halt, eine Zeitlang, wenn es Mutter und Vater nicht mehr können.

Immer mehr Eltern in Not verlangen nach dieser Bereitschaftspflege, demgegenüber erklären sich immer weniger Eltern dazu bereit. Auch in dieser Hinsicht sind die Fandreys ein Auslaufmodell.

Sabine Fandrey, kinnlange braune Haare, blaue Augen, sitzt im Wohnzimmer, der Raum verbindet Küche und Garten. Die 49-Jährige trägt Jeans und einen pinkfarbenen Pullover, wirkt zerbrechlich. Dabei ist sie eine Frau, die durchhält, wenn andere aufgeben: Sie trainiert gerade für ihren fünften Marathon.

"Die Kinder kommen schnell bei uns an", sagt sie. Als Jolina auf ihren Schoß klettert und das zarte Gesicht an ihre Schulter schmiegt, spricht Sabine Fandrey leiser. Beruhigend streicht sie dem Mädchen über die hellblonden Haare. Kevin spielt mit einem Trecker und Duplo-Steinen auf dem Teppich, er wirkt versunken darin. "Zu spielen, das haben die beiden bei uns gelernt. Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, prüfen ständig ihre Umgebung", erklärt Sabine Fandrey.

Kevins Bauklötze stammen aus der Zeit, als die Fandrey-Kinder klein waren. Mittlerweile sind sie zwischen 15 und 25 Jahre alt, studieren in Schottland, machen Abitur. Überall im Haus hängen Fotos von den zwei Jungen und drei Mädchen. Inzwischen leben nur noch die beiden Jüngsten zu Hause - und Jolina und Kevin.

Die Bereitschaftspflege soll Kinder in der Regel bis zu sechs Monate lang auffangen. So kurz wie möglich, so lange wie nötig, sagt Sabine Fandrey. Die Gründe, warum die leiblichen Eltern sie beanspruchen, sind verschieden. Nicht immer verbergen sich dahinter Missbrauch und Vernachlässigung. Viele Mütter und Väter ersuchen den Allgemeinen Sozialen Dienst um diese Hilfe. Die Beratungsstelle des Jugendamtes vermittelt viele der befristeten Pflegschaften für alleinerziehende Mütter, die unter dem Druck von Erziehung, Arbeit und Verantwortung zusammengebrochen sind. Oder weil sie krank sind und in eine Klinik müssen, wie Jolinas und Kevins Mutter. Familiären Halt wie bei den Fandreys kennen die meisten nicht.

In der Trennung liegt die Chance zur Rückkehr, lautet der Modellansatz für die Elternschaft auf Zeit. Die leiblichen Mütter und Väter haben die Möglichkeit, neue Kraft zu schöpfen; die Ämter gewinnen Zeit, Zukunftsperspektiven für die Kinder zu entwickeln.

Sabine Fandrey und ihr Mann sind seit acht Jahren Bereitschaftspflegeeltern. "Als unsere jüngste Tochter eingeschult wurde, stand ich vor der Frage, ob ich wieder als Krankengymnastin arbeiten oder etwas anderes machen sollte", erinnert sie sich, zwischenzeitlich hatte sie als Tagesmutter gejobbt. Über eine befreundete Familie erfuhren die Fandreys von der Elternschaft auf Zeit. Sie habe darin auch eine Möglichkeit gesehen, zu arbeiten und trotzdem für die eigenen Kinder da zu sein, sagt Sabine Fandrey.

Dass ein Elternteil konstant zu Hause ist, setzt die Bereitschaftspflege voraus. "Außerdem habe ich noch Kapazität im Herzen." Es ist ein großer Satz. Sabine Fandrey sagt ihn leise, ruhig, auf ihre Art eben.

Jemand schließt die Haustür auf. Es ist Frank Fandrey. Er kommt von der Arbeit, der schlanke, grauhaarige Mann ist Vorstand einer Pensionskasse. Kevin lässt seine Bauklötze fallen, rennt ihm mit seinem Pampers-Popo entgegen, hält ihm den linken Zeigefinger hin, den er sich am Morgen geklemmt hat. Frank Fandrey nimmt ihn auf den Arm und pustet, Kevin strahlt. "Wir haben uns gemeinsam als Familie für diese Aufgabe entschieden", sagt Frank Fandrey. Worin die größte Schwierigkeit besteht? "Die Kinder aufzufangen und ihnen gleichzeitig verständlich zu machen, dass sie nur zu Gast sind." Das sei nicht immer leicht, sagt seine Frau.

Ihr erstes Pflegekind war ein fünfjähriger Junge, auch seine Eltern waren psychisch krank. Sabine Fandrey erinnert sich an seine Ankunft: Er saß auf den Schultern seines Vaters und hielt ein Schwert in der Hand. "Mir wurden zwei Plastiktüten mit dreckiger Wäsche überreicht, die Sachen waren ihm längst zu klein." Zum Schluss hatte ihn seine Mutter in der Kita vergessen; jeden Tag. Am zweiten Tag bei den Fandreys fragte der Junge die Klavierlehrerin der Kinder: "Wohnst du jetzt auch bei uns?"

Fürsorge, Anerkennung, Aufmerksamkeit. Bei Sabine und Frank Fandrey erfahren die Kinder etwas, das sie von ihren leiblichen Eltern nicht oder nicht mehr kennen.

Jolina braucht enorm viel davon. Immer wieder streckt sie Sabine Fandrey ihr kleines zartes Gesicht entgegen, fleht "Spiel mit mir, Sabine!" Als sie merkt, dass sie damit nicht weiterkommt, schrillt es aus ihrem Mund: "Ich habe Fieber, Sabine!" Jolina sagt Sabine, aber sie sagt es mit der Dringlichkeit eines Kindes, das "Mama" fühlt.

Ihre leibliche Mutter - sie kommt einmal in der Woche für eine Stunde zu Besuch, wundert sich jedes Mal, dass Jolina so gut spricht. "Ich gehe einmal die Woche mit ihr zur Logopädie", erklärt ihr Sabine Fandrey dann.

Geht die Mutter von Jolina und Kevin, bleibt für die Geschwister die Welt auf einer Türschwelle stehen. Dann fühlen sie etwas, das kein Kind erfahren sollte: große Verlassenheit. Ein Gefühl, an das sie sich immer erinnern werden. Ein Gefühl, das mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass Jolina und Kevin anderen nie vertrauen können. Von Mutter und Vater verlassen worden zu sein, unabhängig davon, ob sie gute oder schlechte Eltern waren, bleibe für jedes Kind eine lebenslange Tragödie, wissen Kinderpsychologen.

18 Pflegekinder haben die Fandreys inzwischen in ihrem Familiennest gehütet. "Sie waren süß, aber manchmal auch ganz schön anstrengend", sagt Merle Fandrey, die zweitjüngste Tochter. "Dennoch finde ich es schön, dass wir Kindern ein Zuhause geben, die nicht so ein Glück haben wie wir."

Merle macht gerade Abitur. Die 18-Jährige hat einen Ordner gebracht, in dem Unterlagen und Fotos aller Pflegekinder gesammelt sind. Sie zeigen sie im Garten, im Urlaub am Strand, mit einem Geburtstagskuchen. Doch selbst wenn sie lachen, in jedem Blick auf diesen Bildern liegt Misstrauen. Zum Abschied bastelt Sabine Fandrey für jedes Kind ein Fotoalbum.

Diese Abschiede sind schmerzhaft, für beide Seiten. Darin zeigt sich die ganze Härte dieser Arbeit.

Sabine Fandrey holt das Foto eines blonden Jungen hervor. Tim war wenige Tage alt, als sie ihn aus dem Krankenhaus geholt hat. Neun Monate später brachte ihr die Mutter das nächste Baby. Die Geschwister blieben anderthalb Jahre bei den Fandreys. Denkt Sabine Fandrey an diesen Abschied - er liegt mehr als drei Jahre zurück -, füllen sich noch heute ihre Augen mit Tränen. "Das möchte ich nie wieder erleben", sagt sie. "Den Kindern die Sachen zu packen, sie gehen zu lassen, wenn sie ,Mama' sagen, das ist ganz, ganz schlimm." Sie seufzt. "Wir haben doch schon fünf", sagt sie dann.

Damit auch sie Kraft schöpfen können, haben die Fandreys zwischen den "Belegungen", so der Fachjargon, Pause. Dann räumt Sabine auch alles auf den Dachboden: die Gitterbettchen, die Bauklötze, das Prinzessinnen-Puzzle, mit dem Jolina nun spielt.

Um den Stress ihrer Arbeit zu kompensieren, etwas für sich zu tun, joggt Sabine Fandrey viermal in der Woche. In dieser Zeit passen ihre Töchter, ihr Mann oder ihre Eltern auf Jolina und Kevin auf.

Für die Betreuung bekommen die Fandreys pro Kind 1233 Euro Pflegegeld im Monat, das sieht das Gesetz so vor. Eine Herzensleistung abzurechnen, finde sie eigentlich befremdlich, sagt Sabine Fandrey. Alle Familien müssen unter anderem nachweisen, dass sie nicht vom Pflegegeld abhängig sind.

In 30-stündigen Seminaren werden interessierte Paare auf die Aufgabe vorbereitet, darin lernen sie auch Strategien, wie sie mit den traumatisierten Kindern umgehen, sie in der Pflegezeit in die Familie einbeziehen können.

Auch Sandy Schmidt* wurde im vergangenen März für ein halbes Jahr in eine Pflegefamilie integriert. Ihre Mutter Kelly* war mit der Erziehung der Achtjährigen überfordert. Die 43-Jährige lebt mit ihren insgesamt drei Kindern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, 70 Quadratmeter, in einem Hochhaus in Steilshoop. Von Sandys Vater, einem Alkoholiker, ist sie inzwischen getrennt. Kelly Schmidt sagt über die Gründe, warum sie als einzigen Ausweg eine zeitliche Trennung von ihrer Tochter sah: "Die wollte nicht mehr zur Schule, die hat sich nur noch auf den Boden geschmissen, wenn ich ihr was gesagt habe. Sie ist nicht mal mehr ins Auto eingestiegen." Kelly Schmidts Stimme klingt nach vielen Zigaretten. "Ich hab mir Urlaub genommen, um das mit Sandy in den Griff zu bekommen. Aber ich konnte doch nicht riskieren, dass ich die Kündigung bekomme." Die gelernte Friseurin arbeitet im Schichtdienst in der Bettenaufbereitung einer Hamburger Klinik.

Nach zwei Nervenzusammenbrüchen wandte sie sich an das Jugendamt. Eine Pflegschaft auf Zeit könnte Mutter und Tochter helfen, sagte man ihr dort. "Weil meine Kräfte wirklich am Ende waren, hab ich Sandy dann zu einer Familie nach Volksdorf gebracht. Das war eine ganz tolle Situation da", sagt Kelly Schmidt. "Die hatten ein eigenes Haus, waren katholisch und haben Sandy gut empfangen." Natürlich sei ihr das nicht leicht gefallen, aber sie hätte ihrer Tochter nicht mehr helfen können. Ist die Mutter seelisch gesund, kann dies eine tiefe, liebevolle Verzichtleistung sein, sagen Kinderpsychologen.

Nach sechs Monaten und einer Phase der Wiederannäherung kehrte Sandy zu ihrer Mutter zurück. Während der Pflegezeit war eine posttraumatische Belastungsstörung bei dem Mädchen diagnostiziert worden, die Ursache ist unklar. Um sie zu ergründen, arbeitet eine Kinderpsychologin mit Sandy. Darüber hinaus besucht ein Familientherapeut die Schmidts in Steilshoop einmal die Woche für anderthalb Stunden. Kelly Schmidt hat den Diplom-Psychologen von seiner Schweigepflicht entbunden. "Momentan erlebe ich die Familie als System, das gut miteinander auskommt", sagt Kai von Renteln. "Entscheidend ist, dass Frau Schmidt jede Hilfe dankbar annimmt und auch ihre Beteiligung an der damaligen Entwicklung erkannt hat."

In 50 Prozent der Fälle kehren die Kinder nach der Bereitschaftspflege zu ihren Müttern und Vätern zurück. Klärt sich die Situation nicht, werden Dauerpflege- und Adoptivfamilien für die Kinder gesucht. Menschen, die ihnen die Eltern sind, die jedes Kind verdient.

Nein, sie hätten nicht immer ein gutes Gefühl, wenn die Kinder in ihre Familien zurückkehren, sagen die Fandreys. Wenigstens aber hatten sie eine gute Zeit, tröstet sich Sabine Fandrey dann. Außerdem vertraue sie darauf, dass die öffentliche Fürsorge funktioniere, schließlich seien die Familien ja bei den Ämtern bekannt.

Sabine Fandrey holt eine Postkarte hervor. Eine alkoholkranke Frau, deren Sohn während ihres Entzuges bei den Fandreys lebte, schrieb: "Jetzt kann ich wieder für ihn da sein. Dankeschön."

Wäre es gut für Jolina und Kevin, wenn sie zu ihrer Mutter zurückkämen? Sabine Fandrey deutet ein Achselzucken an. Die Fandreys drängen, dass bald eine Lösung für die Geschwister gefunden wird. Kevin sage schon "Mima" zu ihr, eine Mischung aus Sabine und Mama, glaubt Sabine Fandrey. Der Junge kommt jede Nacht an ihr Bett. "Ich mache ihm dann eine warme Milch, trage ihn zurück in sein Zimmer und warte, bis er wieder schlummert." Wäre Kevin ihr Sohn, er dürfte bei ihr schlafen.

Vor einiger Zeit hat es bei den Fandreys geklingelt. Ein Junge stand vor der Tür. Er wollte ihnen zeigen, dass er jetzt Fahrrad fahren kann.

*) Name geändert