"Ich hier? Als Ehrengast in Hamburg? Und einfach mit dem Zug gekommen? Ohne Grenze, ohne Kontrolle?" Marianne Birthler sagte, beim Betreten des Saals sei es plötzlich wieder da gewesen, dieses ihr mittlerweile vertraute sekundenlange Gefühl des Unwirklichen. "Auch in meiner Heimatstadt Berlin passiert es immer wieder: Ich laufe - 300 Meter von meiner Wohnung entfernt über den doppelten Pflasterstreifen, der den Verlauf der Mauer markiert, auf die andere Seite der Straße - und mein Herz macht einen Hüpfer. Das hört einfach nicht auf. Wir sprechen zu Recht davon, dass vor 20 Jahren ein neues Kapitel im Buch der europäischen Geschichte aufgeschlagen wurde. Aber es handelt sich dabei nicht nur um ein historisches Ereignis."

Das Jahr 1989 habe auch ihr Leben auf den Kopf gestellt - und zugleich das von Millionen Menschen. "Die Mauer fiel, und der Eiserne Vorhang hob sich. Vorausgegangen waren Freiheitsrevolutionen in den Ländern des Ostblocks. Entschlossen und besonnen, kreativ und würdevoll erhoben sich die Menschen gegen die Macht der kommunistischen Parteien." Die singende Revolution in den baltischen Staaten habe den Zerfall der Sowjetunion eingeläutet. "Die Volkserhebung in der Tschechoslowakei fand ihren Höhepunkt im Dezember, als Alexander Dubcek Parlamentspräsident und Vaclav Havel Präsident wurden. Sie wird heute samtene Revolution genannt. Friedliche, samtene, singende Revolution - man könnte meinen, das Jahr 1989 wäre eine Art Happening gewesen, an dessen Ende die Menschen im sowjetisch beherrschten Teil Europas gleichsam in die Freiheit geschlendert wären."

Allzu leicht werde vergessen, wie gefahrvoll dieser Weg war: "Immer wieder standen die Menschen gegen die Diktaturen auf - immer wieder wurde dieser Protest blutig niedergeschlagen." Birthler mahnte deshalb: "Das wiedervereinte Europa muss, wenn es mehr sein will als Wirtschafts- und Verwaltungsverbund, die leidvollen Erfahrungen der Völker Mittel- und Osteuropas 1989/90 in sein Gedächtnis aufnehmen. Die antikommunistischen Freiheitsbewegungen gehören zum Besten, was die europäische Freiheitsgeschichte aufzubieten hat. Sieht Europa in dieser Geschichte sein wertvollstes Erbe, müssen wir uns um die freiheitliche Grundausstattung Europas wenig Sorgen machen."