Vor sechs Monaten wurde ein Toter auf dem Gelände des Klinikums Nord-Heidberg entdeckt. Hinweise halfen der Polizei bisher nicht.

Hamburg. Seine Leiche liegt im Kühlfach 19, ganz unten, jemand hat ihr die Nummer 2261-09 gegeben. Daneben, in einem durchsichtigen Plastiksack, ist seine Kleidung verstaut. Eine dunkelblaue Jeans, Marke "Highlands", made in Italy, blau-schwarze Baumwollsocken, hellbraune, orthopädische Lederschuhe. Der Mann muss sie oft getragen haben, Absätze und Profil der schwarzen Gummisohlen sind stark abgelaufen.

Seit fast genau sechs Monaten liegt er hier, im Keller des Rechtsmedizinischen Instituts der Uniklinik Eppendorf. Niemand kennt seinen Namen, niemand vermisst ihn.

Eine Spaziergängerin hatte ihn am 10. August 2009 auf dem Gelände des Klinikums Nord-Heidberg entdeckt. Etwas abseits eines Wanderweges hatte er sich mit einem braunen Ledergürtel am Stahlzaun des Geländes erhängt. Es hat geregnet und gewittert an diesem Sonntag laut Deutschem Wetterdienst. Das Polizeiprotokoll vermerkt die Fundzeit mit 19.49 Uhr, der Mann war noch nicht lange tot.

"Er hatte keinen Ausweis, keine Papiere bei sich, nichts, wodurch wir ihn hätten identifizieren können", sagt Thomas Welslau. Der Kriminalhauptkommissar, 42 Jahre alt, schwarzes Sakko, sitzt in seinem Büro im Landeskriminalamt. Seine Abteilung, das LKA 417, ist unter anderem zuständig für unbekannte Tote und Langzeitvermisste. Auf dem hellen Holztisch vor ihm liegt ein schmaler, blauer Ordner. U.m.L. steht darauf, unbekannte männliche Leiche. "Zunächst dachten wir, dass es ein Patient war", sagt Thomas Welslau, streicht sich über den Bart, schüttelt gleichzeitig den Kopf.

Er blättert durch die Akte mit dem Zeichen AZ. 034/1K/0553960/2009, schaut, was berichtenswert sein könnte. Es ist eine seltene Situation, für gewöhnlich hält sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen bedeckt. In diesem Fall sind sie dankbar für das Interesse; ihre Maßnahmen, die Identität des Toten zu klären, sind nahezu erschöpft.

In der Akte liegen Fundort-Fotos der Leiche. Sie zeigen einen 1,70 Meter großen Mann, 76 Kilo schwer, etwa 40 bis 50 Jahre alt, mit rasiertem grauen Haarkranz. Sein Gesicht ist markant, er hat eine auffällig große Nase, blaue Augen. Dass er obdachlos war, halten die Ermittler für unwahrscheinlich, dafür war er zu gepflegt. Zwei Tage zuvor hat er sich rasiert, nur unter seinen kurzen Fingernägeln ist etwas Schmutz. Seine rechte Hand liegt auf den Querstreben des grünen Stahlzaunes.

Das Foto verrät noch mehr: Der Mann war schlank, trainiert. Sein schwarzes T-Shirt hat er neben sich an dem 1,60 Meter hohen Zaun verknotet. Sein nackter Oberkörper, seine Arme und seine Hände zeugen von Stärke, die Schrammen auf seinen Unterarmen deuten an, dass er schwer getragen hat.

War er ein Handwerker? Wer oder was hat ihn enttäuscht im Leben, dass er sich umbringt? Warum hat er das Gelände der Heidberg-Klinik gewählt? Thomas Welslau zuckt mit den Achseln. "Darüber kann man nur spekulieren", sagt er. "Es deutet alles darauf hin, dass dieser Suizid keine Kurzschlusshandlung war."

Die Geschichte über den Mann wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten geben kann. Auch diese: Wie kann es sein, dass ein Mensch stirbt, und niemand kennt ihn, niemand vermisst ihn? Nicht die Familie, nicht die Nachbarn, nicht die Kollegen, nicht die Freunde, von denen es doch angeblich immer mehr gibt, im Zeitalter von Online-Netzwerken. Facebook feierte jüngst sein vierhundertmillionstes Mitglied, alles Freunde. Die Zahl hat sich im Laufe des vergangenen Jahres mehr als verdoppelt.

Fälle wie der dieses Unbekannten erzählen eine andere Geschichte über unsere Gesellschaft. Sie zeugen von tödlicher Vereinsamung, vom Vergessenwerden, vom Unsichtbarsein, von einem Tod auf Raten, der vermutlich lange vorher kam, noch bevor der Mann die Schlinge um seinen Hals legte.

War niemand für ihn da? "Die Realität ist keine heile Rama-Welt", sagt Thomas Welslau.

Um die Identität des Toten zu ermitteln, wurden seine Fingerabdrücke eingescannt und zusammen mit seinen DNA-Daten an das Bundeskriminalamt übermittelt. Fakt ist: Der Unbekannte ist noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Fakt ist auch: Der Mann wird nicht vermisst, das zeigte ein Abgleich mit der bundesweiten Vermisstendatei.

Thomas Welslau erinnert sich an den Fall eines Mannes, der sich mit gefälschten Papieren ins Altonaer Krankenhaus hatte einliefern lassen, dort verstarb - auch dessen Identität ist bis heute nicht geklärt. "Das kommt extrem selten vor, aber anscheinend gibt es auch Menschen, die anonym leben und sterben wollen", sagt der LKA-Beamte.

Das Foto des Toten vom Klinikum Nord wurde bereits in mehreren Hamburger Zeitungen veröffentlicht, auch in dieser. Ein Grafiker der Polizei hat das Bild aus zwei Fotos so aufbereitet, dass es erträglich ist, den Mann anzuschauen. Die Ermittler haben lange darüber diskutiert, ob sie ihn mit geschlossenen oder geöffneten Augen zeigen sollen.

Auf den Zeugenaufruf meldeten sich zwei Menschen. Eine Frau aus Schleswig-Holstein glaubte, ihren Bruder erkannt zu haben, zu dem sie seit einem Jahr keinen Kontakt mehr hatte. Ein Mann sah in dem Toten einen Ex-Arbeitskollegen, den Namen erinnerte er nicht mehr. Alle anderen, die ihn sonst noch wissen könnten, seien schon tot. Dass sich nicht mehr Zeugen gemeldet haben, es könnte ein Indiz dafür sein, dass der unbekannte, tote Mann nicht aus Hamburg kommt.

Der Unbekannte. Der Tote. Der Mann. Über einen Menschen zu sprechen, der statt einem Namen nur eine Leichennummer trägt, ist befremdlich. Es macht bewusst, dass erst ein Name Identität stiftet.

In Hamburg sterben jedes Jahr rund 17 000 Menschen. Im Jahr 2009 gab es 39 Fälle, bei denen die Identität der Toten zunächst unklar war, darunter Unfallopfer, Jogger, die an einem Herzinfarkt starben. "Die meisten Menschen identifizieren wir in wenigen Stunden, maximal Tagen nach Auffinden", sagt Thomas Welslau. Fast immer meldet jemand die Person als vermisst. Den Ermittlern reicht für die Identifizierung schon ein gewöhnlicher Schlüssel mit einer Individualgravur. "Anhand der Nummer kann uns der Hersteller sagen, an welche Firma er den Schlüssel verkauft hat. Die wiederum wissen, wo sie die Schließanlage eingebaut haben, zu der der Schlüssel gehört", erklärt Welslau.

Keine Papiere, kein Schlüssel, kein Schmuck. In zwei Fällen pro Jahr gelingt es den Ermittlern nicht, die Toten zu identifizieren. Nummer 2 im vergangenen Jahr war eine andere männliche Leiche am Elbstrand. Auch hier gibt es noch keinen vielversprechenden Hinweis, wer der Mann war.

Auf einer Landkarte im LKA hat Thomas Welslau die Fundorte der unbekannten Leichen der vergangenen zehn Jahre markiert. 20 Nadeln stecken darin, an jeder ist ein weißes Fähnchen mit einer Zahl befestigt, hinter einer steht "Skelett".

Die Legende weist 18 Männer und zwei Frauen aus. Die unbekannten Toten waren überwiegend Männer mittleren Alters, anscheinend sind sie häufiger als andere isoliert. Nicht immer waren die Toten Obdachlose, nicht immer war die Todesursache Suizid.

Sechs Menschen wurden in Hafennähe, sieben in der Nähe von Kliniken gefunden. Nur zwei Fähnchen verweisen auf eine gelbe Markierung in der Legende, IDENTIFIZIERT steht dahinter. Eine Person war ein Mann aus dem saarländischen Pirmasens, 87 Jahre alt. Er hatte nie einen Bezug zu Hamburg, sich aber entschieden, in der Elbe zu sterben. Sieben Monate nach seinem Auffinden meldete ihn seine Enkelin aus der Schweiz als vermisst. "Das war Fügung", sagt Thomas Welslau. Ein seltenes Erfolgserlebnis.

Zu dem Unbekannten vom Klinikum Nord gehört das Fähnchen mit der Nummer 19. Zufällig ist es die gleiche Nummer wie die des Kühlfachs im UKE, in dem er jetzt liegt.

Die rechtsmedizinische Untersuchung seiner Leiche hat eine Ärztin durchgeführt. Weil kein Hinweis auf eine Fremdeinwirkung festgestellt wurde, blieb es bei der äußeren Leichenschau für 50 Euro. Eine Obduktion einzig zur Identifizierung eines Menschen sieht das Gesetz nicht vor.

Leider gibt das Gutachten auch sonst keinerlei Ansatzpunkte für die Ermittler. Der Mann hatte keine besonderen Kennzeichen. Einzig das ist vermerkt: "In der Außenseite des rechten Oberschenkels eine circa 5 x 4 cm messende, annähernd kreisförmige, ältere, reizlose Narbe". Darüber hinaus hält das Papier fest: "Lückenhaft mit eigenen Zähnen besetzte Kieferleisten". Vielleicht bedeutet es, dass der Mann nicht viel Geld hatte, sich keinen Zahnarzt leisten konnte. Vielleicht heißt es auch nur, dass ihm seine Zähne nicht so wichtig waren oder er Angst vor dem Zahnarzt hatte.

"Es gibt so wenige Ermittlungsansätze, es reicht nicht mal für ein Bauchgefühl", sagt Ermittler Welslau. Prinzipiell könnte noch eine sogenannte Isotopenanalyse des Toten helfen. Experten können anhand von Körpergewebe feststellen, wo sich ein Mensch zu Lebzeiten aufgehalten hat, Ernährung, Klima und Geologie hinterlassen Spuren im Körper. Die Analyse von zwei Zähnen, drei Haarabschnitten und einem Knochen kostet 6000 Euro, identifiziert ist der Mensch dadurch nicht.

Thomas Welslau klappt den Ordner zu, stellt ihn zurück ins Regal. Gibt es keine neuen Hinweise, wird er die Akte irgendwann in den kommenden zwölf Monaten ins Archiv geben. Auf Antrag des LKA wird der Unbekannte dann auf dem zuständigen Friedhof Öjendorf zwangsbestattet. Die Kosten, rund 1700 Euro, trägt die Sozialbehörde. Wahrscheinlich steht an seinem Grab nur ein Friedhofsbetreuer.

Was ist mit der Frau, die ihn geboren hat? Wo ist ein Freund, mit dem er zum Fußball ging? Wo ist die Geliebte, die ihn in den Armen hielt? Wo sind die Kollegen, mit denen er mal ein Bier trank? Wo sind die Nachbarn, für die er vielleicht mal die Blumen gegossen und die Katze gefüttert hat?

Auf einem Hain am Rande des Öjendorfer Friedhofs gibt es eine Gedenkstätte für Verstorbene ohne Angehörige. Eine Künstlerin hat dort Findlinge aufgestellt. Auf den Steinen steht: Mutter, Vater, Ehemann, Ehefrau, Freund, Freundin.