Der Hamburger Erzbischof Werner Thissen bittet alle Mitarbeiter des Erzbistums, ein besonders wachsames Auge auf ihr Umfeld zu haben.

Hamburg. Die Mitarbeiter des Erzbistums müssen künftig noch genauer hinsehen - das fordert der Hamburger Erzbischof Werner Thissen nach den Missbrauchsfällen an Jesuiten-Schülern im Interview mit dem Hamburger Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Thissen, sind die jetzt aktenkundigen Vorfälle die Spitze eines Eisbergs?

Erzbischof Dr. Werner Thissen: Das kann man nicht sagen. In jedem Fall haben die Jesuiten schnell und konsequent reagiert. Zum Beispiel mit der Benennung einer unabhängigen Person, die das Ganze prüft. Ich finde es - bei allem Elend - gut, dass dieses Problem offensiv angegangen wird. Die Jesuiten unternehmen alles für eine schnelle Aufklärung.

Abendbatt: Wie ist es zu erklären, dass solche Delikte erst nach so vielen Jahren publik werden?

Thissen : Berechtige Frage. Offenbar ist es so, dass die Vorfälle den Jesuiten länger bekannt sind. Es mag sein, dass sich Betroffene gemeldet und um absolute Diskretion gebeten haben. Dann darf man natürlich nicht gegen den Willen des Opfers an die Öffentlichkeit gehen.

Abendblatt: Auf diese Art kann manches unter den Teppich gekehrt werden ...

Thissen: Das will ich nicht in Abrede stellen. Man muss bedenken, dass die aktuellen Vorfälle Jahrzehnte zurückliegen. Damals waren alle, Gesellschaft wie Kirche, weniger sensibilisiert als heute.

Abendblatt: Auch in Hamburg hat es sexuellen Missbrauch gegeben. Fürchten Sie, dass weitere Fälle ruchbar werden?

Thissen: Ich halte nichts vom Spekulieren. Ebenso wenig halte ich davon zu beschwichtigen. Jeder, der mit Anschuldigungen kommt, wird sehr ernst genommen. Die Kirche tut damit auch der Gesellschaft einen Dienst, indem wir mit solchen Übergriffen sehr sorgsam umgehen und alles für eine lückenlose Aufklärung tun.

Abendblatt: Wird in der katholischen Kirche zu oft weggeguckt?

Thissen: Allgemein nicht. Wir schauen nicht weg. Im Augenblick sind wir sogar Vorreiter im Hinschauen. Bei allem Schmerzlichen ist es wichtig, dass wir eine Vorreiterrolle übernehmen.

Abendblatt: Was muss jetzt konkret passieren?

Thissen: Die konsequente und umfassende Aufklärung sämtlicher Fälle habe ich schon angesprochen. Seit Längerem spielt das Thema Kindesmissbrauch eine wichtige Rolle in der Ausbildung. Bereits vor einem Jahrzehnt hat die Bischofskonferenz weitere Anstöße gegeben - sowohl unter ethischen als auch psychologischen Aspekten. Ärzte und Hochschullehrer helfen uns dabei, aber wir halten auch Kontakt zu Opferorganisationen.

Abendblatt: Kommt in der Ausbildung katholischer Theologen die Vorbereitung auf sexuelle Enthaltsamkeit zu kurz?

Thissen: Das ist wie überall in der Welt: Sexualität ist zunehmend ein Thema geworden. Wir sind es dem Priesternachwuchs schuldig, sich intensiv bewusst zu werden: Auf was lasse ich mich ein?

Abendblatt: Muss nicht noch mehr zur Verhinderung und Aufklärung unternommen werden?

Thissen: Ich habe in diesen Tagen mit dem Leiter der Jesuiten in Deutschland telefoniert. Er hat mir die Maßnahmen vorgestellt. Je nachdem, was bei den Ermittlungen rauskommt, stellt sich die Frage dann neu: Müssen wir noch mehr unternehmen? Schon jetzt existiert bei jedem noch so kleinen Verdacht ein festgelegter Ablauf. Dazu zählen feste Ansprechpartner und klare Regeln, wann die Staatsanwaltschaft einzuschalten ist. Ich bitte immer wieder alle Mitarbeiter des Erzbistums, ein wachsames Auge zu haben. Ein Aufruf zum Bespitzeln ist das nicht.

Abendblatt: Wie erleben Sie die Fälle als Mensch? Ihr Inneres muss doch in Aufruhr sein.

Thissen: Es haut mich um. Und es ist furchtbar, ganz furchtbar. Es bedarf starker geistiger und psychischer Anstrengung, ruhig und sachlich mit diesen Vorfällen umzugehen. Dabei denke ich nicht zuerst an den Schaden für die Kirche, der immens groß ist. Viel mehr denke ich an den Schaden für die einzelnen Betroffenen.