Der Blick vom neunten Stock des Bezirksamts am Klosterwall geht über die Speicherstadt, die HafenCity und manchmal noch weiter. Ein schöner Ausblick. Hier im Büro des Bezirksamtsleiters Mitte, Markus Schreiber, laufen die Fäden zusammen; von hier steuert der Amtschef die Arbeit seiner 1600 Mitarbeiter, die wiederum für 276 000 Bewohner im Bezirk zuständig sind. Darunter sind jedes Jahr 2800 neugeborene Babys. 200 von ihnen werden vom Amt betreut. Und eines ist gestorben: Lara, sieben Monate alt, unterernährt, dehydriert. Es war am 11. März 2009. "Besonderes Vorkommnis", heißt das in der Behörde und wird dem Chef sofort gemeldet.

"Ich weiß noch genau: Es war am frühen Nachmittag, und ich saß am Schreibtisch, als ich den Tod des Babys Lara erfuhr." Die Umstände des Todes seien damals unklar gewesen. "Ich dachte: 'Oh, Gott, wie schrecklich.'" Bald kam die Frage auf, wer welche Schuld trägt. Markus Schreiber - sonst nie um Worte verlegen - zögert, wirkt nachdenklich, fast verschlossen. Manche Antworten sind glasklar ("Ich bin Amtschef und trage die persönliche Verantwortung"). Andere Antworten zeigen: Die Wirklichkeit, die hier in den neunten Stock zum Amtschef vordringt, reicht ihm nicht immer. "Ich wollte mir ein Bild vor Ort machen und bin einen Tag mit den ASD-Mitarbeitern zu den Familien gegangen", sagt er, holt tief Luft und berichtet, was ganz tief unterhalb des neunten Stockwerks ihn beeindruckt hat. "Nein, mitgenommen hat es mich." Mit zwei ASD-Kollegen habe er eine Familie besucht, in der der Vater trinke und die Mutter sich schützend vor die beiden kleinen Kinder stelle. "Während wir - also wir drei vom Amt - dort sitzen, kommt der Vater und erklärt, er liebe seine Frau nicht mehr und wolle sie jetzt sofort verlassen." Für Schreiber ein Indiz, wie wenig konfliktfähig viele Menschen sind. "Die können keine Konflikte aushalten und keine Konflikte austragen, und wir müssen den Menschen sagen: Wie lebe ich mein Leben." Schreiber ist kaum zu bremsen, erzählt noch die Geschichte einer Frau, die ihren Ehemann immer vom Bruder zusammenschlagen lasse, wenn der Schwierigkeiten mit den Kindern mache. Der ASD, der Allgemeine Soziale Dienst, werde immer mehr zum staatlich bezahlten Streitschlichter. "Dabei haben die Hauptverantwortung in erster Linie die Eltern - Punkt! Die Liebe der Eltern kann kein Staat ersetzen."

Diese Wirklichkeiten aus dem richtigen Leben müssen sonst, wenn der Chef aus dem neunten Stock nicht herabsteigt, die vier Ebenen des "Verwaltungshandelns" durchdringen: Über den ASD-Mitarbeitern kommen die ASD-Leiter der drei Regionen (Wilhelmsburg, Billstedt und der Rest), dann folgt die Jugendamtsleiterin, dann der Dezernent, dann erst Schreiber als Verwaltungschef.

Manchmal dringen Wahrheiten nur verzögert an die Öffentlichkeit. Wie eine "kollektive Überlastungsanzeige", die von den ASD-Mitarbeitern ein gutes halbes Jahr vor dem Tod von Baby Lara geschrieben und an "alle Hierarchieebenen des Bezirks und auch der Sozialbehörde" geschickt wurde. In der später vorgelegten, amtlichen Dokumentation zum Fall Baby Lara fehlt dieser Passus völlig. "Das hat mich wütend gemacht, und ich bin mit meinem Widerspruch während der Pressekonferenz an die Grenze dessen gegangen, was ich mir als Bezirkschef noch erlauben kann", sagt Schreiber. Den "Expertenbericht" stellen Senator Dietrich Wersich (CDU) und Markus Schreiber (SPD) Mitte April vor. Man sei beim Fall Lara in eine "Routinefalle" gegangen. Von der Überlastungsanzeige vor dem Tod war keine Rede mehr. Dieser Fakt lässt den Bezirkschef nicht ruhen: "Ich muss mich hier vor meine Mitarbeiter stellen. Wenn sie ideale Rahmenbedingungen gehabt hätten, dann wäre die Schuldfrage auf sie zugekommen. Doch es gab zu viele Fälle für zu wenig Personal."

Und wie ist es heute?

Von den 30 neuen ASD-Mitarbeitern, die nach Laras Tod eingestellt wurden, erhielt der Bezirk Mitte neun. Schreiber: "Und diese werden dort eingesetzt, wo es viele betreute Kinder von Hartz-IV-Empfängern gibt, also in Wilhelmsburg und Billstedt. Das ist neu." Kann es trotzdem wieder einen Fall Lara geben?

"Wir können nur das Risiko minimieren. Wer behauptet, es stirbt kein betreutes Kind mehr, der lügt." Hat er Angst davor? "Ja", sagt Markus Schreiber, ohne zu zögern. "Die Angst davor ist immer da."