Dietrich Wersich sieht die Sache eher nüchtern, rational. Der CDU-Sozialsenator analysiert. Die Kritik, die nach dem Fall Lara an ihm und seiner Behörde geübt wurde, lässt er - zumindest nach außen - an sich abprallen. Vielleicht muss man das in seinem Amt. "Risiken gibt es immer", sagt Wersich. Dass sei ihm von Anfang an mit Übernahme des Senatorenpostens bewusst gewesen. "Im Bereich der Jugendhilfe kann immer etwas passieren. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht."

Trotzdem hat auch er den Fall Lara anders erlebt als andere Fälle. Vor allem in der Anfangsphase sei insgesamt sehr verantwortlich mit dem Geschehenen umgegangen worden, betont er. "Wir hatten ja schon andere Fälle, nach denen sofort die Schuldfrage losgetreten wurde", so Wersich. Diesmal sei die Anfangsphase sehr viel weniger "reflexhaft" gewesen. "Normalerweise wird sofort gefragt, wer Schuld hat, wer gehen muss, und mehr Geld gefordert", fasst der Senator die "üblichen Konsequenzen" zusammen, "wenn irgendwo etwas passiert". Diesmal sei der Versuch unternommen worden, gemeinsam aufzuklären.

Gemeinsam heißt für ihn, mit der Jugendhilfe, dem Rauhen Haus und der Behörde. Das Ergebnis war ein Bericht, der vor allem den Begriff der "Professionalitätsfalle" geprägt hat. Ein Bericht, den vor allem die Mitarbeiter des betroffenen Jugendamts in Wilhelmsburg als Schuldzuweisung empfunden haben. "Das hat ein kleines Beben beim Allgemeinen Sozialen Dienst ausgelöst", gibt auch Wersich zu. Er glaubt, zu Unrecht. "Wenn man einen Fall analysiert und hinterher feststellt, dass Dinge nicht optimal gelaufen sind, dann ist das eben keine Schuldzuweisung, dann ist das eine Analyse, die man braucht, um die gleichen Fehler in Zukunft zu vermeiden", sagt Wersich. Die hohe Verantwortung, die die Jugendamtsmitarbeiter und Betreuer in ihrer täglichen Arbeit tragen müssen, sei ihm bewusst.

Den Ursprung solcher Fälle wie Lara, wie Jessica, wie Kevin aus Bremen sieht Wersich aber ganz woanders. "Die Situation der Familien hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert, weil über Jahre nicht die sozialen Probleme gelöst, sondern versorgt wurden." Dadurch haben sie sich verfestigt, sagt der Sozialsenator. "Deutschland ist sozialpolitisch dadurch geprägt, dass der Staat für alles aufkommt und zahlt, weil man geglaubt hat, dadurch überwindet man Probleme." Tatsächlich würden diese aber bleiben, zum Teil schlimmer werden, wenn nicht präventiv gearbeitet wird. Wersich ist davon überzeugt, dass "wir jetzt die Früchte der Probleme der Vergangenheit ernten".

Der Ehrgeiz des Senators ist klar: Er will diese Kette der Armut, der sozialen Schwierigkeiten und überforderten Eltern, die auf die nächsten Generationen übertragen werden, unterbrechen. Und zwar jetzt. Er strebt an, dass sich der Staat künftig nicht allein auf die Versorgung dieser Menschen beschränkt, sondern er und die Gemeinschaft "wirklich dafür sorgen, dass diese jungen Menschen und Kinder ihre Lebenschancen voll entfalten können und sie unterstützt werden, bevor Probleme heranwachsen."

Wersich ist überzeugt davon, dass es fast nie an mangelnder Liebe liegt, wenn Eltern ihre Kinder nicht richtig versorgen. Er will den gezielten Ausbau der Unterstützungsmöglichkeiten - wie Familienhebammen, Mutter-Kind-Zentren.

Wersich: "In Fällen, in denen das Kindeswohl gefährdet ist, muss der Staat sein Wächteramt übernehmen. Dann müssen wir intervenieren." Aber Fälle wie Jessica hätten dazu geführt, dass auch die freien Träger der Jugendhilfe sich stärker als vorher auf dieses Wächteramt besonnen haben. Das Kindeswohl stehe vor dem Elternwohl, betont Wersich.

Trotzdem hat es den Fall Lara gegeben. Und auch hier gibt es, so sagt es der Senator, konkrete Folgen. "Es ist bundesweit beachtet worden, dass die Fehleinschätzungen sehr erfahrenen Kräften passiert sind, dass sie in eine Professionalitätsfalle getappt sind", so Wersich. Dadurch habe sich die Sensibilität erhöht, seien Helfer wachgerüttelt worden. "So muss es aber auch sein. Wenn Fehler passieren, muss man den Grund suchen und Dinge ändern."