Am 2. Oktober 1984 starben 19 Menschen, als die Barkasse Martina mit einem Schleppzug kollidierte. Sascha Balasko rekonstruiert das Unglück.

Hamburg. Plötzlich geht das Licht aus. Plexiglas zerbirst. Mit einem lauten Knall springt eine Tür auf. Wassermassen schießen in den dunklen Fahrgastraum der Barkasse "Martina". Menschen schreien. Sie haben eben noch ausgelassen bei Bier und Limonade, Salat und Kuchen Geburtstag gefeiert. Jetzt ist die Fröhlichkeit in Panik und Todesangst umgeschlagen.

Gudrun Rosenhagen rettet sich durch ein aufgesprungenes Seitenfenster. Als sie wieder klare Gedanken fassen kann, treibt sie im Dunkeln mitten auf der Elbe - ganz allein. Und sie beobachtet, wie die Hafenbarkasse sinkt. "Wie die 'Titanic' im Kleinen", erinnert sich Gudrun Rosenhagen, die heute 59 Jahre alt ist.

An Bord sind noch 42 Menschen. Eltern, Kinder, Freunde, Nachbarn, Kollegen. Sie ist die Einzige, die nicht mit dem Schiff untergeht. Sogar ihre Haare sind trocken geblieben. "Und mit einem Mal herrschte absolute Stille. Es war unwirklich. Ein böser Traum."

Bei dem Barkassenunglück am 2. Oktober 1984 starben 19 Menschen, darunter zehn Kinder. Es war einer der folgenschwersten Unfälle im Hamburger Hafen.

Wolfgeorg Rosenhagen wollte an diesem Tag seinen 40. Geburtstag feiern. Auf die Einladungen hatte er geschrieben: "Den Beginn meines fünften Lebensjahrzehnts möchte ich auf der Elbe feiern." Am Abend seines Geburtstages war sein Leben zerstört, hatte die Familie Rosenhagen ihre beiden Söhne verloren: Matthias (5) und Guntram (7). "Ich fühle mich verantwortlich, weil ich die Menschen eingeladen hatte", sagt Wolfgeorg Rosenhagen heute. "Aber ich fühle mich nicht schuldig." Für drei Stunden hatte der Meteorologe in Diensten der Umweltbehörde die Barkasse "Martina" von der Schiffseignerin Margarethe Stünkel gechartert. Preis: 350 Mark. Um 16.30 Uhr waren die Gäste an den Landungsbrücken verabredet.

Der 2. Oktober war ein schöner Herbst-Dienstag, 13 Grad, leicht bewölkter Himmel, der Wind blies mit Stärke drei aus Südwest. Das Wasser allerdings war auf zwölf Grad abgekühlt. Schiffsführer Ulrich Wruck, damals 66 Jahre alt, trug eine starke Brille und seit zwei Jahren einen Herzschrittmacher. Im Sommer 1983 hatte er zuletzt ein Gesundheitszeugnis vorgelegt.

Um 17.02 Uhr legte die "Martina" ab, Kurs Speicherstadt. An Bord waren Seemannslieder zu hören, jemand hatte eine Kassette mitgebracht. Die Kinder tranken grüne Waldmeister-Limonade, für die Erwachsenen gab es Flensburger Pils. Die Geburtstagsgesellschaft bediente sich am Kalten Büfett mit selbst gemachten Salaten. Kapitän Wruck pries über den Bordlautsprecher die Sehenswürdigkeiten des Hafens an und gab Döntjes über Klaus Störtebeker zum Besten. Eine Stunde später legte die "Martina" wieder nahe den Landungsbrücken an. Einige Gäste stiegen aus, auch der Vater und eine Schwester von Wolfgeorg Rosenhagen. Sie wollten in seiner Wohnung eine Nachfeier vorbereiten. Und sein Onkel, der am nächsten Tag früh aufstehen musste. Neue Gäste stiegen dazu. Gegen 18.20 Uhr ging die Fahrt weiter. Durch die Hafenbecken, unter der Köhlbrandbrücke hindurch zurück Richtung Norderelbe. Zur gleichen Zeit fuhr der Schlepper "Therese" mit Kapitän Günter Peinemann von Finkenwerder elbaufwärts in Richtung Grenzkanal. An einem 4,5 Zentimeter dicken und 25 Meter langen Nylon-Seil zog der Schlepper eine Baggerschute, beladen mit wenigen Tonnen Schrott.

Wolfgeorg Rosenhagen stand bei Kapitän Wruck, als die "Martina" den Hauptstrom erreichte. "Ich fragte ihn, ob er ein Bier haben wollte", erzählt Rosenhagen. Wruck lehnte energisch ab. Er wollte die Zeit nutzen und noch einen kleinen Abstecher elbabwärts machen. Doch der Schiffsführer bemerkte nicht, dass an dem Schlepper eine Schute hing. Möglicherweise hatte er die Positionslichter in der Dunkelheit nicht gesehen. Die Schute tauchte aus dem Nichts auf, die "Martina" fuhr unter das Nylon-Seil, geriet zwischen Schlepper und Schute. Einen kurzen Augenblick später wurde die Barkasse von der Schute überlaufen und unter Wasser gedrückt. Sie sank innerhalb kürzester Zeit auf den Grund der Elbe, die hier zwölf Meter tief ist. Um 19.17 Uhr setzte die Besatzung des Schleppers einen Notruf ab.

Wie lange Gudrun Rosenhagen allein an der Wasseroberfläche schwamm, weiß sie heute nicht mehr. "Immer wieder tauchten irgendwo einige Leute auf", erinnert sie sich. Sie klammerte sich mit den anderen an einen Rettungsring, den ihnen die Mannschaft der Schute zugeworfen hatte. Die Rettungsringe der "Martina" - unerreichbar unter den Sitzen - waren mit untergegangen. "Einige Leute fluchten, andere schrien, Kinder weinten vor Angst", sagt Gudrun Rosenhagen. "Ich konnte wenigstens einen Jungen beruhigen." Über eine Strickleiter kletterten sie an Bord des Schleppers "Therese". Auch Wolfgeorg Rosenhagen, der zunächst in die Tiefe gerissen wurde, schaffte es wieder an die Oberfläche. Aber er wollte nicht aus dem kalten Wasser steigen. "Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, aber es nicht zu können." 22 Menschen wurden von der "Therese" aufgenommen, zwei weitere von der Mannschaft des herbeigeeilten Schleppers "Johanna".

Joachim Peters, Chef der Wasserschutzpolizei, erreichte um 19.32 Uhr in Öjendorf über seinen Alarmempfänger die Nachricht "Kollision auf der Elbe. Personen im Wasser." An den Wortlaut und die Uhrzeit kann er sich noch genau erinnern. "Ich war noch in Uniform und habe sofort kehrtgemacht." Peters und sein Kollege Maximilian Puchner, Chef der Feuerwehr, koordinierten die Rettung und die Suche nach Vermissten. Peters ließ den Schiffsverkehr sperren und zwölf Boote mit Suchscheinwerfern auf der gesamten Elbbreite die Strecke Landungsbrücken-Blankenese abfahren. "Meine Horrorvision war, dass es vielleicht jemand bis zur Kaimauer geschafft hat, aber dort nicht hochkam."

Nach vier Stunden gab Peters den Schiffsverkehr wieder frei. "Nach menschlichem Ermessen konnten wir nach dieser Zeit niemand mehr lebend finden." Die Entscheidung ist ihm nicht leichtgefallen: "Ich hatte ein ungutes Gefühl."

Damit hatten auch Wolfgeorg und Gudrun Rosenhagen, die mit Unterkühlungen im Krankenhaus lagen, keine Hoffnung mehr, ihre Söhne lebend wiederzufinden. "Wir dachten bis zuletzt, dass die anderen irgendwo anlanden würden." Doch sie wurden schnell enttäuscht. Noch im Krankenhaus erfuhren sie, dass Gudrun Rosenhagens Mutter unter den Toten war. "Da erst wurde uns bewusst, dass es wohl doch nicht alle geschafft hatten.".

Am nächsten Vormittag wurde die "Martina" geborgen. Auch die letzte Chance, dass sich vielleicht Überlebende in einer Luftblase hätten retten können, erfüllte sich nicht. Zur gleichen Zeit sollten die Rosenhagens in der Gerichtsmedizin im UKE die Toten identifizieren. "Ich habe gesagt, dass man uns doch bitte Fotos von ihnen zeigen sollte und nicht die Leichen", sagt Gudrun Rosenhagen. Doch ihre Söhne bekamen sie nicht zu sehen. Die beiden Jungen waren verschollen. Erst am 19. Oktober wurde der Leichnam des fünfjährigen Matthias am Ostufer des Köhlbrands gefunden. Fast täglich tauchten damals elbabwärts Tote auf.

Ihr zweiter Sohn Guntram wurde bis heute nicht gefunden. Lange hatten die Eltern geglaubt, "dass er möglicherweise lebend auftaucht", sagt Gudrun Rosenhagen, die Meteorologin ist, wie ihr Mann. Aber den beiden Wissenschaftlern war klar, dass sie vergebens hofften. "Ich finde es ungerecht, dass er nicht mit seinem Bruder beerdigt werden konnte", sagt die Mutter leise. Erst neun Jahre später ließen die Eltern ihn für tot erklären. "Früher hätten wir das nicht gekonnt."

Nur wenige Wochen nach dem Unglück gingen beide wieder ins Büro. Wolfgeorg Rosenhagen in die Umweltbehörde, seine Frau zum Deutschen Wetterdienst. "Wir hatten das Bedürfnis nach einem normalen Leben." Und nach Kindern. "Ohne sie haben wir uns unheimlich alt gefühlt." Ein Jahr später kam Felix zur Welt, zwei weitere Jahre später Anton. Die Rosenhagens spürten, dass andere Menschen ihnen vorhielten, diese Söhne seien nur ein Ersatz für den Verlust. Dabei wollten sie doch nur eine Familie haben. Sie mussten auch mit Berührungsängsten leben, sogar von Pastoren, die offenbar nicht wussten, wie man mit einem derartigen Schicksal umgeht. "Andere Familien zerbrechen daran", sagt Gudrun Rosenhagen. "Wir aber sind zusammengeblieben." Auch mit den meisten Überlebenden hält die Familie engen Kontakt: "Wir treffen uns bis heute."

Im Haus der Rosenhagens in Sasel hängen Fotos der beiden toten Söhne. Die jüngeren Brüder wussten von jeher vom Schicksal Guntrams und Matthias', sie begleiteten ihre Eltern zum Friedhof oder an die Elbe, um der beiden Älteren zu gedenken.

Kurze Zeit später ging Wolfgeorg Rosenhagen in Teilzeit. "Ich war wohl einer der ersten Männer in den Hamburger Behörden, die das machten." Er wollte sich um die Familie kümmern. Und er verschrieb sich der Aufarbeitung des Unglücks, legte ein umfassendes Zeitungsarchiv an und setzte sich für die Sicherheit von Barkassen-Rundfahrten ein. Zwar müssen Rettungsringe heute frei zugänglich sein und aufschwimmen können. "Aber wenn die Barkassen volllaufen, gehen sie immer noch unter wie Badewannen", sagt Rosenhagen. "Dass die alten Dinger immer noch fahren dürfen, kann ich nicht verstehen." Nie wieder haben er und seine Frau eine Hafenbarkasse bestiegen. "Da gehören wir nicht hin."

Im Jahr 1985 legte das Seeamt einen Untersuchungsbericht vor. Als Ursache stellte es fest, dass Kapitän Ulrich Wruck die Vorfahrt nicht beachtet habe. Sein "Sehvermögen" aber sei ausreichend gewesen. Warum er dennoch die Lichter des Schleppverbandes nicht gesehen hat, wird sich nie klären lassen. Auch Wruck kam bei dem Unfall ums Leben.

An diesem Freitag wird Wolfgeorg Rosenhagen 65 Jahre alt. Wie in jedem Jahr seit dem Unglück wird er auf die Friedhöfe gehen, um den Toten seine Ehre zu erweisen. Feiern wollte er an seinem Geburtstag nie wieder. Vor fünf Jahren hat seine Frau ihn trotzdem überrascht. Sie hat die Feier mit Freunden einfach einen Tag vorverlegt. Wolfgeorg Rosenhagen sagt: "Ich bin immer froh, wenn dieser Tag vorbei ist."