Obst, Fleisch und Backwaren gab es plötzlich in einem einzigen Verkaufsraum, die Kunden mussten sich die Waren selbst nehmen. Es funktionierte. Lediglich mit den Drehtüren hatte so mancher noch seine Probleme.

Hamburg. Es war eine 170 Quadratmeter große Revolution. Am 30. August 1949 eröffnete die Hamburger Konsumgenossenschaft "Produktion" (Pro) auf dem Grundstück Beim Strohhause 32 in St. Georg einen ganz besonderen Laden. "S1" enthielt alles, was die Hausfrau täglich brauchte: Obst, Gemüse, Mehl, Fleisch und Backwaren - in einem einzigen Verkaufsraum. Hier gab es plötzlich lange Gänge voller Regale, durch die man einen Wagen schieben und sich die Waren selbst nehmen musste. Und am Ende stand die Kasse.

Ganz anders als bisher in den gemütlichen, oft winzigen Geschäften, in denen der Kaufmann hinter der Ladentheke stand und jede Kundin selbst bediente.

"Das war für uns junge Leute ein dolles Ding", erinnert sich Uwe Malterer, damals Lehrling bei der Pro und später langjähriger Vorstand von Konsumgenossenschaften. "Wir waren unheimlich stolz, dass wir soviel weiter waren als die Konkurrenz von Spar und Edeka."

Die Pro hatte mit S1 den ersten Selbstbedienungsladen in Deutschland eröffnet.

Ganz so wie in den heutigen Supermärkten ging es allerdings noch nicht zu. Da Mehl, Reis und Hülsenfrüchte noch nicht als fertig verpacktes Markenprodukt zu haben waren, mussten die Mitarbeiter hinten im Lager alle Waren selbst abwiegen, verpacken und mit Preisen auszeichnen. Eine aufwendige Angelegenheit.

Doch Vorstand Bernhard Priess war überzeugt: Das ist die Zukunft. In den USA und in Schweden florierten die Selbstbedienungsläden bereits. Eine Gruppe Pro-Mitarbeiter reiste sogar extra nach Schweden, um sich die dortigen Methoden anzusehen.

Bis Priess seine Vorstandskollegen überzeugt hatte, dauerte es allerdings eine Weile. Denn damals gab es in Deutschland noch große Vorbehalte gegenüber der Selbstbedienung. Würden die Hausfrauen in solch anonymen Läden überhaupt einkaufen wollen? Und wäre nicht die Versuchung in der Nachkriegs-Mangelwirtschaft zu groß, die Waren einfach aus den Regalen zu stehlen?

Vorsichtshalber ließ die Pro für S1 Merkzettel mit einer genauen Anleitung für die Kundinnen drucken. "Nimm selbst! ist der Grundgedanke der Selbstbedienung", war dort zu lesen. "Willst Du etwas näher ansehen, dann nimm es ruhig in die Hand. Gefällt es Dir, dann leg es in den Einkaufswagen." Und natürlich: "Hast Du alles, was Du brauchst, dann führt Dich der Weg zur Kasse."

Die Kundinnen gewöhnten sich erstaunlich schnell an die neue Einkaufswelt. "Es hat uns sehr gewundert, dass der Selbstbedienungsladen so problemlos angenommen wurde", erzählt Uwe Malterer. Der Laden entwickelte sich bald zum umsatzstärksten Geschäft der Pro und blieb es bis in die 60er-Jahre hinein. Das Abendblatt berichtete am 10. September 1949 allerdings von einem grundsätzlichen Problem: "Interessant ist die in Hamburg gemachte Beobachtung, dass manche Kundinnen sich scheuen, durch die Drehtür zu gehen. Einige sind sogar umgekehrt."

Trotzdem trat das Konzept Selbstbedienung seinen Siegeszug durch Deutschland an. Die Pro eröffnete in rascher Folge noch fünf S-Läden, auch in anderen Städten bediente man sich beim Einkaufen jetzt selbst.

Die meisten Hausfrauen waren begeistert. In einer Pro-Kundenzeitschrift vom September 1949 schrieb eine zufriedene Kundin: "Dieser Laden zum Selbstbedienen ist eine ganz fabelhafte Angelegenheit. Jede Hausfrau findet hier volle Befriedigung ihrer Kaufwünsche. Eigentlich wollte ich nur zwei oder drei Artikel kaufen. Aber - da sehe ich Backpulver und Vanillinzucker sowie Blätter-Gelatine liegen. Richtig! Das gebrauche ich ja demnächst für eine Geburtstagsfeier."

In Hamburg stockte der Siegeszug der Selbstbedienung zwischenzeitlich, als Ende 1952 die Skeptiker in der Pro die Überhand bekamen. Der Bau von Selbstbedienungsläden wurde gestoppt, die neuen Geschäfte sollten wieder nach altem Muster funktionieren.

Eröffnet wurden sogenannte Tempoläden. Dort wurden die Hausfrauen wie früher an der Theke bedient. Der einzige Unterschied: Die Verkäuferin trug den Warenkorb zur Kasse, wo die Kundin bezahlte. Doch das Konzept war kein rechter Erfolg. Die Hamburger verlangten nach den modernen Läden. In den 60er-Jahren baute auch die Pro wieder auf Selbstbedienung.

Der S1 übrigens blieb all die Jahre hindurch ein Selbstbedienungsladen. Ende der 50er-Jahre zog er in den Neubau des Pro-Verwaltungsgebäudes nebenan (neue Hausnummer 2), in den 70ern wurde er zum modernen Supermarkt umgebaut. Noch heute können die Hamburger Beim Strohhause ihre Lebensmittel kaufen - S1 gehört jetzt zu Real.

Moderne Supermärkte sind in der Regel mehr als 2000 Quadratmeter groß, bieten unzählige vorverpackte Markenprodukte an, und auch vor den Drehtüren hat kein Kunde mehr Respekt. Doch der Grundstein für sie alle wurde 1949 in Hamburg gelegt, in einem winzigen Laden namens S1.

Der Pro-Geschäftsbericht für 1949 vermeldet stolz, diese Form des Einkaufens habe "die Zustimmung der Hausfrauen gefunden". Zudem konnte er "erfreulicherweise mitteilen, dass Diebstähle kaum festzustellen sind".

Die Revolution hatte begonnen.

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