Eine Institution: Hier stiegen Kanzler und Künstler die Stufen hinab. In den Nischen des Austernkellers konnten Stars ungestört dinieren.

Hamburg. Diskretion ging in dem Restaurant am Jungfernstieg über alles. "Aus Hamburg nicht wegzudenken", schrieb der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi. Doch es kam anders. Die beliebte Flaniermeile Jungfernstieg schien ihm genau die richtige Adresse zu sein, als August Wilhelm Daniel Schümann im Sommer 1884 seinen Austernkeller eröffnete. Er war aus dem Oldenburgischen zugereist, wusste aber genau, was Hamburger Feinschmeckern gefiel. Denn sein Handwerk hatte er bei Johann Cölln gelernt, dem bekannten Hamburger Händler von Fischdelikatessen, der schon seit 1833 an den Brodschrangen mit Meeresfrüchten handelte und sie auch in seinem Kellerlokal zum Verzehr anbot. Dort lernte Schümann, wie man Austern und Hummer zubereitete. Sein Lehrherr hatte ihn aber auch zu Einkaufsreisen bis an die Wolga mitgenommen, wo er Kaviar direkt von den Fischern erwarb.

Von Cölln hatte sich Schümann auch die Idee der Einrichtungen abgeschaut, die kleinen Separees, in denen Gäste nicht nur ungestört gut essen, sondern sich auch vertraulich unterhalten konnten. Geschäftsleute und Prominente wussten diese Diskretion zu schätzen. Im Vergleich mit seinem Lehrmeister hatte er die bessere Lage entdeckt. Schräg gegenüber stand der legendäre Alsterpavillon, und die Treppen in sein Lokal führten direkt in den Keller von Streit's Hotel, das einen hervorragenden Ruf hatte. An gut betuchten Gästen mangelte es in diesem Umfeld also nicht. Dass der Wirt in diesem Austernkeller nicht nur die beliebten Schalentiere servierte, sondern auch eine echte, hausgemachte Schildkrötensuppe "Lady Curzon", die mit Currysahne überbacken war, sowie Seezunge "Colbert" mit Sauce Choron, einer tomatisierten Béarnaise, das sprach sich in Hamburg schnell herum.

Als im Jahr 1903 ein neues Domizil gefunden werden musste, hatte der Inhaber Glück. Es bot sich gleich nebenan im Haus Nummer 34, einem traditionsreichen Gebäude. 1843 hatte der Kaufmann und Bankier Salomon Heine, den man auch den Rothschild von Hamburg nannte, dort das erste "Heine Haus" als Frauenwohnstift "Heine'sches Asyl" errichtet. 1902 wurde es "auf Abbruch" verkauft. Nach den Plänen des Architekten Ricardo Bahre bauten Julius Campe und Julius Kallmers 1903 an derselben Stelle ein modernes Kontorhaus. Es gehört bis heute zu den schönsten Jugendstil-Gebäuden der Hansestadt. Besitzer ist noch immer die Campe'sche Historischen Kunststiftung.

Zu dem stilvollen Gebäude passte auch die aus besten Hölzern gefertigte Jugendstil-Einrichtung des Austernkellers. Er bot elf Separees jeweils für zwei bis zu zwei Dutzend Gäste, kleine Kellerstuben und Nischen für ein Schlemmermahl. Jede in einem eigenen Stil. Da gab es das "Maurische Zimmer" und das "Jagd-Zimmer", die "Holländische Diele", die "Bürgerstube", das "Heinrich-Heine-Zimmer" und "Großmütterchen". Auffällig im zentralen Teil des Lokals war die sieben Meter lange Austerntheke aus Carrara-Marmor.

Der Empfang gleich hinter der Eingangstür war hanseatisch, Hamburger pflegen zu sagen "gediegen". Nach der höflichen Frage, wie viele Gäste denn zu erwarten seien, wurden sie in das passende Separee geleitet. Hatte der Kellner die Karte hereingereicht, dann verließ er rückwärts (nur nie den Gästen den Rücken zukehren!) diskret den Raum. Wurden die Speisen serviert, dann klopfte er höflich an die Tür und erschien erst dann erneut, wenn der kleine messingfarbene Klingelknopf gedrückt wurde.

Die Gäste wussten die Diskretion zu schätzen. Besonders als die Filmindustrie und später auch das Fernsehen den Begriff Star prägten. In den Separees waren sie sicher vor neugierigen Blicken, Autogrammwünschen und Fotografen. So liest sich die Gästeliste jener Jahre wie ein Who is who der Filmwelt: Hans Albers, Heinrich George, Emil Jannings, Fritz Lang, Heinz Rühmann, Ilse Werner, Olga Tschechowa, Peter Lorre, Luis Trenker, Willy Birgel, Willy Fritsch, Hans Söhnker, Hildegard Knef, Marlene Dietrich und Zarah Leander gehörten zu den Gästen.

Marlene Dietrich lernte bei Schümanns das Krebsessen, Grethe Weiser hatte dort das erste Rendezvous mit ihrem Mann, der italienische Opernsänger Enrico Caruso schmetterte nach den Meeresfrüchten Arien.

1938 zwangen die Nationalsozialisten den Sohn von August Wilhelm Daniel Schümann, seinen Betrieb weit unter Wert zu verkaufen. Damit wurde der Austernkeller "arisiert", wie es damals hieß, weil seine Stiefmutter und Mitinhaberin Jüdin war. Erst 1950 konnte die Familie den Betrieb zurückkaufen - allerdings hoch verschuldet. Neun Monate später starb der Inhaber, seine Tochter Jutta Schümann übernahm das Restaurant.

Sie schaffte es, in dem einzigartigen Ambiente wieder eine Speisekarte zusammenzustellen, die den Ansprüchen und dem guten Ruf aus der Vorkriegszeit gerecht wurde. Und wieder kamen die Prominenten. Verleger Axel Springer, Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Künstler Tomi Ungerer, Eiskunstläuferin Marika Kilius, der Schriftsteller Walter Kempowski sowie die Schauspielerinnen Romy Schneider und Hildegard Knef gehörten nun zu den Gästen am Jungfernstieg.

1984 schrieb der damalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi zum 100. Geburtstag des Austernkellers, er "präsentiert lebendige Kulturgeschichte und ist aus Hamburg nicht wegzudenken". Doch es kam anders.

Zuerst schwand der Spitzenruf der Gastronomie. Eine prominente Hamburger Unternehmerin, die Freunde in Schümanns Austernkeller eingeladen hatte, beschwerte sich 1999 über lauwarmen Champagner, trockenen Hummer, zu wenig Kaviar und ungenießbare Matjes. Da zeichnete sich auch schon das Ende ab. Die Campe'sche Historische Kunststiftung als Besitzerin des Gebäudes hatte jahrelang die Mieten nicht erhöht. Dem Vorstand war die weitere Entwicklung unangenehm, doch die Stiftung hat einen Zweck. Sie soll laut Satzung mit dem Erlös aus den Mieten ihrer Häuser den Ankauf von Kunstwerken für die Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe ermöglichen. Doch bei den geringen Mieten, die keineswegs dem Niveau am Jungfernstieg entsprachen, war dieser Vereinszweck nicht umzusetzen. Ein Vorstandsmitglied sagte damals: "Durch die niedrige Miete, die Frau Schümann gezahlt hat, sind den Museen schon Hunderttausende von Mark entgangen." Und die Sanierung des Erdgeschosses sollte auch noch einmal fünf Millionen kosten. Denn seit den 30er-Jahren war dort keine Strom- oder Wasserleitung erneuert, kein Brandschutz modernisiert worden. Jutta Schümann hatte stets jeden Zutritt zu ihren Räumen verweigert. Die Stiftung machte ihr bereits Mitte der 90-Jahre das Angebot, ihr Lokal gegen eine Leibrente aufzugeben.

Als die Verhandlungen bekannt wurden, boten angeblich der Milliardär Donald Trump, Ex-"Vier Jahreszeiten"-Hotelbesitzer Aoki und weitere Multimillionäre an, die wertvolle Einrichtung zu kaufen. Jutta Schümann gab zu, einen Fehler gemacht zu haben, als sie damals nicht verkaufte: "Das Geld war mir nicht wichtig. Mein Herz hing am Restaurant."

Dann zeigte Hans Barlach Interesse, der Enkel des Malers und Bildhauers. Er wollte den Keller auf einer Bergspitze wieder aufbauen, in dem gerade renovierten Restaurant auf dem Süllberg. Doch es gab Unstimmigkeiten. Das Projekt auf dem Süllberg war in die Insolvenz geraten. Nun zeigte der Gastronom Holger Urmersbach Interesse, winkte aber schließlich wegen der ungeklärten Eigentumsverhältnisse ab. Am 28. Dezember 2000 wurde der Austernkeller geräumt, das Mobiliar eingelagert. Bei Schopmann, dem ältesten deutschen Auktionshaus mit Sitz in Hamburg, kamen die Einrichtungsgegenstände schließlich im Jahr 2003 unter den Hammer. Den Zuschlag erhielt Bernhard Paul, Direktor des Circus Roncalli. Er sprach seinerzeit über Pläne, die Räume in der "Schilleroper" wieder auferstehen zu lassen. Die Geschichte hat noch kein erkennbares Happy End ...

Jutta Schümann verstarb am8. April 2006 kurz vor ihrem 86. Geburtstag in einem Hamburger Pflegeheim. Sie liegt auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben.

Am Jungfernstieg 34 sind heute keine Spuren des legendären Lokals mehr zu entdecken. Wer dort in den Keller hinuntersteigt, steht vor verschlossenen, stählernen Feuertüren.

Der Mythos aber scheint ungebrochen. Am 18. Mai wurden vier Gästebücher von Schümanns Austernkeller aus den Jahren 1904 bis 1994 versteigert. Darin finden sich solche Raritäten wie ein Gedicht von Otto Ernst über den Rotwein, Zeichnungen von Loriot und Otto; die Komponisten Max Reger und Max Fiedler hinterließen Noten, Udo Lindenberg ein Selbstporträt mit Gitarre.

In Internetreiseführern taucht Schümann's Austernkeller am Jungfernstieg noch immer als Hamburger Restauranttipp auf, einschließlich der alten, nicht wieder neu vergebenen Telefonnummer.

Es ist so, als wehre sich das Lokal dagegen, völlig in Vergessenheit zu geraten.

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