Vor neun Monaten beging der Ehemann der Hamburger GAL-Politikerin Christiane Blömeke Suizid. Jetzt macht die Mutter von drei Kindern im Hamburger Abendblatt ihre Geschichte zum ersten Mal öffentlich. Das Thema Selbsttötung, sagt sie, darf nicht länger ein Tabu sein.

Hamburg. Dienstags geht sie in die Petrikirche. Jede Woche, seit Oktober. Seit Wolfgang tot ist. Dann zündet sie eine Kerze an, setzt sich in eine der Bänke und hält stumm Zwiesprache mit ihrem Mann. Sie erzählt ihm von den drei gemeinsamen Kindern, von ihrem Alltag. Ihrem Leben. Einem Leben, das seit jenem Tag im Oktober 2008 so anders ist, dass es lange Zeit kaum noch ihr Leben zu sein schien. Sondern das einer anderen Frau. Einer Frau, deren Mann sich das Leben genommen hat. Deren Leben aus den Fugen geraten ist. Bis sich ihr altes und ihr anderes, ihr neues Leben, zusammengefügt haben. Langsam. Nach vielen Dienstagen in der Petrikirche.

Dies ist die Geschichte von Christiane Blömeke, der Politikerin. Der GAL-Bürgerschaftsabgeordneten, die sich für die Chancengleichheit von Kindern und die verantwortungsvolle Pflege von alten Mensche einsetzt. Und es ist die Geschichte von Christiane Blömeke, der Privatperson. Der dreifachen Mutter, die 23 Jahre verheiratet war und deren Mann plötzlich nicht mehr da war.

Es ist eine Geschichte voller gesellschaftlicher Tabus. Einer dramatischen Zäsur. Aber auch voller Mut und Offenheit. Es ist eine Geschichte, die erzählt werden muss, auch wenn sie viele nicht hören wollen. Es ist eine Geschichte vom Suizid. Und vom Leben.

Viele Male hat Christiane Blömeke (49) dienstags in der Petrikirche gesessen und darüber nachgedacht, was passiert ist. Warum es passiert ist. Und warum es so schwer ist, in unserer Gesellschaft darüber zu sprechen. Bis sie sich entschieden hat, an die Öffentlichkeit zu gehen. Damit sich die Einstellung der Gesellschaft zum Thema Suizid ändert.

"Ich möchte, dass der Suizid enttabuisiert wird. Dass wir irgendwann über den Tod durch Suizid genauso reden können wie über den Tod durch Herzinfarkt oder Krebs. Dass die Gesellschaft erkennt, dass der Suizid der tödliche Ausgang einer schweren Krankheit ist, die ihren Ursprung nicht im körperlichen, sondern im seelischen Bereich hat", sagt Christiane Blömeke. Am liebsten möchte sie nur über das Thema reden, nicht über ihre persönliche Geschichte. Doch sie weiß, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Untrennbar. Also erzählt sie. Wie sich ihr Mann Wolfgang (54) an einem sonnigen Herbsttag das Leben genommen hat. An einem Dienstag.

Es ist ihr wichtig, nicht von "Selbstmord" zu sprechen. Weil Mord der schwerste Straftatbestand in unserem Strafgesetzbuch ist und die Tötung eines anderen Menschen aus niedrigen Beweggründen bezeichnet - und nicht die Situation eines verzweifelten Menschen, der sich das Leben nimmt. Auch gegen den Begriff "Freitod" wehrt sie sich. Weil Menschen, die Suizid begehen, das nicht freiwillig tun, sondern von einer so tiefen Verzweiflung und Todessehnsucht getrieben werden, dass sie nicht mehr frei handeln können. "Suizid ist kein Ausdruck von Freiheit oder Wahlmöglichkeit, sondern die Folge von Einengung. Von objektiver oder subjektiver Not", sagt Christiane Blömeke. Diesen Satz hat sie sich vorher aufgeschrieben. Weil er ihr so wichtig ist, dass sie ihn nicht vergessen darf. Sie weiß, dass die meisten Menschen das alles nicht verstehen können. Aber sie hofft, dass sie es irgendwann akzeptieren können. So wie auch sie gelernt hat, es zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass der Suizid ihres Mannes eine Entscheidung gegen alles war, was bisher im Leben wichtig war. Zu akzeptieren, dass Wolfgangs Schmerz und die Verzweiflung größer waren als die Bindung an die Familie, an die Freunde - und vor allem an die Kinder (15, 18 und 20 Jahre alt).

Es gibt Momente, so sagt man, die verändern das Leben für immer. Die zerteilen das Leben in zwei Hälften. In Davor und Danach. Der Suizid ihres Mannes sei so ein Moment gewesen, sagt Christiane Blömeke. Für sie gibt es ein Leben vor dem Suizid und eins danach. Ein Leben, in dem der Dienstag nur ein Wochentag war und eins, in dem der Dienstag der Todestag ihres Mannes ist. Ein Leben, in dem man an die Kraft von zwischenmenschlichen Bindungen glaubte - und ein Leben, in dem man weiß, dass selbst Angehörige den Betroffenen nicht helfen können.

Das hat Christiane Blömeke bei Agus gelernt. Agus ist eine Selbsthilfegruppe für "Angehörige um Suizid". Zweimal pro Monat trifft sich Christiane Blömeke mit anderen Betroffenen und spricht mit ihnen über das, was sie sonst mit kaum jemandem besprechen kann. Über Gefühle und Fragen, die man manchmal am liebsten verdrängen möchte, die aber alle Angehörigen von Suizidtoten irgendwann haben. Schuldgefühle, Selbstvorwürfe. Aber auch Wut und Ärger. Weil der andere einem das angetan hat. Und weil seit dem Tod alles anders ist für Christiane Blömeke, die Privatperson, aber auch die Politikerin. "Mein Wertesystem hat sich ziemlich verändert", sagt sie. Es ist, als ob ihr Lebensmosaik auseinander gebrochen ist und die Einzelteile neu zusammengelegt werden müssen. Auch wenn sich dadurch ein anderes Bild ergibt. Viele Dinge haben noch mehr an Bedeutung gewonnen. Beziehungen zum Beispiel, die Zeit mit Freunden und mit der Familie. Offenheit und Ehrlichkeit. Auch wenn das die Arbeit in der Politik schwieriger macht. Weil es ihr nach Wolfgangs Tod noch schwerer fällt, Ziele und Ideale zurückzustellen, um die Linie der Koalition zu halten. Sie weiß, wie heikel es sein kann, darüber zu sprechen. Und trotzdem will sie es machen. Weil sie weiß, wie wichtig es ist, offen und ehrlich zu sein.

Und weil sie erleben musste, wie es ist, wenn man nicht offen und ehrlich sein kann. Wenn Probleme aus Angst vor Konsequenzen nicht ausgesprochen werden. Wenn man nach außen anders auftreten muss, als man sich im Inneren fühlt. Und wenn man das alles irgendwann nicht mehr aushält und daran zerbricht. So wie Wolfgang.

Rückblickend, sagt Christiane Blömeke, fügen sich die Einzelteile wie bei einem Puzzle zusammen und ergeben ein Bild, ein Krankheitsbild: Depressionen. In der Vergangenheit habe man das nicht erkennen können. Vermutlich noch nicht einmal Wolfgang selbst. Als Ingenieur war er gewohnt, unter Druck zu stehen. Für den Job zu brennen - bis er irgendwann ausgebrannt war. Man spricht von einem "Burn-out". Von Depressionen spricht zuerst niemand. "Weil Depressionen genauso ein Tabu sind wie Suizid", glaubt Christiane Blömeke. Hat deswegen vielleicht auch ihr Mann es jahrelang nicht wahrhaben wollen, psychisch krank zu sein? Hat er es verborgen? Vor Freunden, der Familie, der Firma. Und vor sich selbst.

Wenn Christiane Blömeke die Geschichte ihres Mannes erzählt, beginnt sie mit dem Ende. Mit jenem Tag, als sie den ganzen Nachmittag bei Wolfgang angerufen hat - und ihn nie erreichte. Es war der Tag, an dem sie den Anruf bekam, dass er Suizid begangen hat. Jener Dienstag, der das Ende einer Geschichte war, von der Christiane Blömeke bis heute nicht weiß, wann sie begonnen hat. Schon 1981, als sie sich kennengelernt haben? Als sie geheiratet haben? Als sein Vater gestorben ist und Wolfgang in eine Krise stürzte? Als er 2007 für die Firma nach Amerika ging? Oder als er nach seiner Rückkehr erst einmal in das leerstehende Haus seiner Eltern zog, weil seine Krankheit die Ehe so belastet hatte, dass ein Zusammenleben nicht möglich war? Oder, als er merkte, dass eine neue Beziehung und eine andere Wohnung die Entfremdung in der eigenen Haut nicht löste?

Es sind solche Fragen, die sich Christiane Blömeke oft gestellt hat. Und auf die sie keine Antworten gefunden hat, auch nach so vielen Dienstagen nicht. Weil es keine Antwort gibt. Darauf zumindest nicht. Das weiß Christiane Blömeke heute. Heute, nachdem sie eine Therapie gemacht und mit anderen Betroffenen gesprochen hat. Nachdem sich das Chaos der Gedanken und Gefühle gelegt hat. Und nachdem sie weiß, dass sie keine Schuld an Wolfgangs Tod hat. Dass niemand daran Schuld hat. Noch nicht einmal er selbst.

Am Dienstag wird sie wieder in die Petrikirche gehen und eine Kerze für Wolfgang anzünden. Sie wird sich in eine der Bänke setzen und in Gedanken mit ihm sprechen. Aber sie wird ihm keine Vorwürfe machen. Und sich auch nicht. Sie wird Abschied nehmen. Von Wolfgang - und von dem Dienstag. 40 Wochen lang hat sie an diesem Tag in der Kirche gesessen, getrauert und nachgedacht. 40 Wochen - die Zeit, die eine Schwangerschaft dauert. Die Zeit, die es dauert, bis ein neues Leben entsteht. Ein neuer Mensch. Und es ist die Zeit, die Christiane Blömeke zum Abschiednehmen von einem anderen Leben brauchte. Sie hat gelernt, loszulassen, das alte Leben mit dem neuen zu verbinden und zu wissen, dass es für sie weitergeht.

Jetzt wird sie nicht mehr regelmäßig in die Petrikirche gehen. Aber sie wird weiter an Wolfgang denken. Und über Suizid sprechen. Weil ihre Geschichte weitergeht.