Blind

Leben, ohne zu sehen - zwei Schicksale

| Lesedauer: 6 Minuten
Ralf Nehmzow

Die 20-Jährige und der 31-Jährige sind seit ihrer Kindheit sehbehindert. Trotzdem sind die beiden glücklich.

Die Bilder, ab und zu kommen sie zurück: Die Wiese voller Blumen, die Schaukel auf dem Spielplatz, "die auf mich zufliegt, und die Sonnenuntergänge, die habe ich geliebt", sagt Jana Enkelmann. Das war damals, als sie vielleicht fünf, sechs Jahre alt war. Heute ist Jana 20 Jahre alt - und so gut wie blind.

Jana leidet an Neurofibromatose, einer Krankheit, bei der sich aufgrund eines Gen-Defekts überall Tumore bilden können. Bei ihr zieht sich ein Tumor durch den Sehnerv, drückt auf ihn. Als sie sieben ist, wird es immer schlechter mit dem Sehen.

"Wie ein Tunnelblick, das Gesichtsfeld verengte sich immer mehr", sagt Jana. Im Alter von neun bricht es richtig aus. Chemotherapie. Sie wiegt zeitweise nur noch 20 Kilogramm, die Haare fallen aus, "ich habe mich damals viel mit dem Tod beschäftigt", sagt sie. "Ich habe Gott gefragt, warum ich, warum nicht die anderen Kinder?"

Die Spielkameraden ziehen sich zurück, "niemand in der Siedlung wollte mehr mit mir spielen, ich wurde gehänselt" - doch ihre Familie gibt ihr Kraft. Nicht aufzugeben. Weiterzukämpfen, weiterzuleben. "Das war eine harte Zeit, ich war verzweifelt, am Boden, aber ich habe mich immer an irgendetwas hochgezogen." Jana sitzt auf dem Sofa im Elternhaus in Hummelsbüttel. "Und dann habe ich mir gesagt: Ja, ich möchte leben."

Sie besucht eine Schule für Körperbehinderte, macht einen Förderabschluss - derzeit arbeitet sie in einer Werkstatt für Behinderte. Kraftquelle für die schwereren Zeiten. Immer wieder muss sie zu Ärzten, sie weiß nicht, wann und wo wieder Tumore wuchern. Aber daran versucht sie nicht zu denken. Früher hat sie noch Kinderbücher gelesen. Blindenschrift kann sie nicht lernen, weil sie kein Gefühl in den Fingern hat. Sie verkauft im Internet Sachen - eine Software, die die Buchstaben extrem vergrößert, und eine Sprachübersetzung machen es möglich. "Dadurch öffnet sich mir die Welt", sagt Jana und lächelt. Vor allem die Schlagerwelt, ihr großes Hobby. Ihr größtes Idol: Schlagersängerin Helene Fischer. "Ich weiß alles über sie, sie hat mir mit ihrer Musik viel Kraft gegeben", sagt sie. Ihr Alltag: 5.15 Uhr Wecken, aufstehen, "mit Musik von Helene Fischer". Um 6.30 Uhr holt sie ein Bus ab, sie fährt zur Werkstatt nach Groß Borstel. Mittags kehrt sie zurück. Per Bus, U-Bahn. Mit ihrem Blindenstock. Den Weg hat sie mit ihren Eltern einstudiert. Bisweilen ist "das eine kleine Abenteuerreise", sagt sie. Denn: Hält der Busfahrer wegen eines Hindernisses nicht direkt an der Haltestelle oder fällt eine U-Bahn aus, "wird es schwierig". Sie wünscht sich von manchem Busfahrer oder von Passanten mehr Hilfe in solchen Situationen. "Es ist oftmals ein Kampf im Straßenverkehr, man muss sich durchsetzen als Blinder."

Über Kleinigkeiten ärgert sie sich längst nicht mehr. "Das raubt mir nur positive Energie." Sie ist aktiv. Macht Inlineskating. Ein Trainer hat es mit ihr geübt. "Wenn man mir die Strecke vorher gezeigt hat, ist es kein Problem, es macht Riesenspaß."

Wie es ist, blind zu werden, kennt auch Heiko Kunert (31), PR-Assistent im Sehbehinderten- und Blindenverein Hamburg. Mit anderthalb wurde ihm das erste, mit sieben Jahren das zweite Auge herausoperiert. Ein Tumor war schuld. Es war ein Sommertag. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, konnte er noch auf einem Auge halbwegs sehen. Ein paar Stunden, nach der OP, war er blind. "Das war ein unbeschreiblicher Einschnitt", sagt er. Er weiß noch, wie er am Krankenzimmer die Umgebung ertastete. "Zu Hause kannte ich mich ja genau aus, das half." Aber für seine Mutter sei eine Welt zusammengebrochen. "Mein Vater hat immer gesagt: Wir schaffen das." Und Heiko Kunert kämpft sich durch. Erst in der Blindenschule, dann in der Heinrich-Hertz-Schule. "Zuerst war es schwierig, viele haben mich nicht akzeptiert, aber das legte sich mit der Zeit." Oft habe er Wut im Bauch gehabt über sein Schicksal. Aber: Er schafft das Abitur mit Bravour. Studiert an der Uni Hamburg Politik und Geschichte, mit Abschluss 1,7. "Da waren meine Eltern natürlich stolz." In der Uni lässt er sich vorlesen, Lehrbücher auf Band sprechen, "Studieren war natürlich mühsamer als für Normalstudenten."

Er hat eine Freundin, wohnt allein. Fährt jeden Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. "Ein ganz normaler Alltag, mit Ärger und Freuden", sagt er. Ein Lesegerät sagt ihm, welche Farben seine Kleidung hat. Mit Blindenschrift und der Hilfe eines Sprachprogramms kann er im Internet surfen, kommunizieren. Gerade war er mit seiner Freundin in London. "Eine faszinierende Stadt, ich erhöre sie." Auch ins Kino geht er. Hört zu. "Den Rest lass ich mir erzählen." Er fährt mit seiner Freundin Tandem.

Zwei Blinde, zwei Schicksale. Ihre Wünsche? Jana Enkelmann: "Eine eigene Wohnung, eine Arbeit, einen Freund - und Sängerin Helene Fischer zu treffen, das wäre ein Traum." Und: "Paragliding, vielleicht mit 80."

Heiko Kunert: "Gesundheit, gute Freunde, Familie,und, dass Sehende normaler mit uns umgehen, Blinden was zutrauen, ihnen Chancen geben." Wenn ihm eine Operation das Augenlicht zurückgeben könnte, würde er es wollen? "Nein, jetzt wieder zu sehen, das wären viel zu viele Eindrücke, ich habe mich arrangiert so, wie es ist", sagt Heiko Kunert. "Ich sehe - aber mit anderen Sinnen." Jana Enkelmann denkt da anders. Sie hat noch zwei Prozent Sehkraft, kann Schatten, Hell und Dunkel sehen. Die Bilder, sie kommen ihr manchmal wieder, im Traum: die Blumenwiese, die Schaukel auf dem Spielplatz, die Sonnenuntergänge - "ich bete jeden Tag zu Gott, dass ich wieder sehen kann".

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