Früher gab es feste Vorstellungen, was aus Jungen werden soll: Ernährer, Beschützer, Bestimmer. Doch diese Rollen gelten nicht mehr, und neue Vorbilder fehlen. Wächst eine Generation von Verlierern heran?

Jungen sind die neue Problemgruppe der Gesellschaft. Viele von ihnen gelten als die aktuellen Verlierer, unangepasst, ungebildet, unwillig. Sie haben's nicht leicht, obwohl sie, anders als ihre Vorväter, keine Kadettenanstalten, keine Kriege und keine körperlich schwere Arbeit mehr kennen. Doch leider wachsen heutige Jungen auch ohne eine Vorstellung davon auf, was von ihnen als zukünftige Männer erwartet wird. Ihnen fehlen Vorbilder.

Schon bei der Geburt sterben mehr männliche als weibliche Säuglinge, auch der plötzliche Kindstod betrifft sie häufiger. Sie werden schneller krank und sind häufiger von Unfällen betroffen. Männer ernähren sich nicht so gesund, treiben weniger Sport, nehmen eher Drogen und leiden häufiger an Krankheiten. Ihre Lebenserwartung liegt in westlichen Gesellschaften im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre unter der von Frauen. Auch bei den Selbstmorden sind sie viermal häufiger vertreten als Frauen.

Noch dramatischer ist die schulische Bilanz der Jungs: Sie sind später schulreif, bringen schlechtere Leistungen, bleiben häufiger sitzen und brauchen mehr Nachhilfe. An Haupt-, Sonder- und Förderschulen machen Jungen heute rund 70 Prozent der Schüler aus. Im Deutschunterricht sollen die 15-Jährigen ihren Mitschülerinnen ein Jahr hinterherhinken. Lesen gilt bei Jungs als uncool. Aber wie will man an Wissen kommen, wenn man nicht liest?

Unter den rund 80 000 Jugendlichen, die pro Jahr die Schulen ohne Abschluss verlassen, sind doppelt so viele männliche wie weibliche Schüler. Natürlich kann es sich der Staat nicht leisten, jährlich rund 44 000 junge Männer auf dem Bildungsweg zu verlieren. Da muss etwas passieren. Zudem erreichten 2006 von den 18- bis 21-Jährigen nur 26,1 Prozent der Jungen die Hochschulreife, während es bei den Mädchen 33,8 Prozent waren. Jungen, so hat man jetzt beschlossen, brauchen mehr Förderung. Ganz sicher brauchen sie auch mehr attraktive männliche Vorbilder. In Hamburg wird die Bürgerschaft heute auf Antrag von CDU und GAL ein umfassendes Konzept dazu beschließen.

Mütter, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen prägen die Kindheit vieler Jungen. Manch einer muss die Grundschule verlassen, um das erste Mal einer männlichen Autoritätsperson zu begegnen. Doch Jungen müssen auf ein Leben als Mann vorbereitet werden. Sie brauchen Bewegung, Abenteuer, Herausforderungen, sie müssen Mut und Zivilcourage lernen. Unter Männern.

Früher waren Jungen ältere oder jüngere Brüder, übernahmen im und außerhalb des Hauses Aufgaben, gingen durch Initiationsriten ins Erwachsenenleben, um Ernährer und Beschützer, meist auch Bestimmer zu werden. Heute wachsen viele Jungen als Einzelkinder und vom Vater verlassen auf. Aufgaben gibt es für diese Jungen kaum noch. Und wie ihr Leben sich gestalten soll, darüber haben die meisten keinen Plan. Kein Wunder, dass da viele auf "dumme Gedanken" kommen. 80 Prozent der Ratsuchenden, die eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen, sind Mütter mit ihren Söhnen, schreibt der Pädagoge und Autor Frank Beuster in seinem Buch "Die Jungenkatastrophe".

Das, was einst als typisch männlich galt, scheint heute nicht mehr zeitgemäß zu sein - weil sich die Gesellschaft gewandelt hat. Kann es sein, dass es etwas damit zu tun hat, dass sich die Rollen und Aufgaben für Frauen in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch erweitert haben, während Jungen keine neuen Aufgaben für sich entdeckt haben und die alten Rollen nicht mehr als attraktiv gelten? Wer will schon noch strafender Vater, schmissiger Kamerad oder dröhnender Chef sein? Und das Wort Macho ist lange schon zum Schimpfwort mutiert. Aber viele Jungen tragen noch ein traditionelles Rollenbild mit sich herum, ohne darauf vorbereitet zu sein, dass kaum noch Frauen dazu bereit sind, sie neben Beruf und Familie rundum zu versorgen. Was also haben die zukünftigen Männer zu bieten? Sie müssen sich etwas einfallen lassen.

Fragt man unter Bekannten, die ein Kind erwarten, nach dem Geschlecht des Babys, hört man "Gott sei Dank, ein Mädchen" oder "es wird ein Junge", gefolgt von Achselzucken und einem ratlosen Blick. Was ist los mit der Gesellschaft, in der es scheinbar keine attraktiven Rollenvorbilder mehr für Männer gibt? Macht es vielleicht keinen Spaß mehr, ein Mann zu werden?

Vielleicht nicht. Männer werden heutzutage oft als jene jämmerliche Spezies dargestellt, über die man sich kaputtlachen kann. "Caveman" heißt das Stück über den Zeitgenossen mit Steinzeitverhalten, der unfähig ist zur Kommunikation und nur begrenzt über Fantasie verfügt. In Deutschland ist das Stück seit Jahren ein Renner, am New Yorker Broadway war es das erfolgreichste Solo-Stück aller Zeiten. Mario Barth fesselt mit seinen Sketchen über die Dusseligkeit von Männern Millionen. An fast allen deutschen Theatern fehlt es inzwischen an großen Männer-Darstellern. Der jugendliche Held ist ausgestorben. Stattdessen gibt es jede Menge Jungs im Ensemble. Auch in Film und Fernsehen schauen wir den entscheidungsgehemmten Männern zu. Männliche Jugendliche kommen oft nur als Kriminelle oder Verlierer vor. Ein geschiedener Polizist, dem die eigene Tochter nicht traut, ist dort inzwischen der Normalfall. Ebenso Lebenskrisen, vielfach beschädigte Helden und die dysfunktionale Familie, in der niemand mehr Verantwortung übernehmen will. Ist es da noch ein Wunder, dass kein Junge mehr Lust hat, so ein Mann zu werden?

Selbst diejenigen Jungen, die noch in einer sogenannten Normalfamilie aufwachsen, kennen ihre Väter oft kaum. Sechs Minuten täglich verwendet der Durchschnittsmann auf die Erziehung. Und da fragen wir uns, warum so viele Jugendliche orientierungslos und aggressiv werden. Sind die abwesenden Väter die Ursache dafür, dass ihre Söhne deren Leben nicht führen wollen?

Zwei besonders schreckliche Straftaten der letzten Wochen geben den Blick auf junge Männer frei, die in scheinbar heilen Familien aufwuchsen und die doch offenbar auch mit ihren falschen Bildern von Männlichkeit, mit dem Erfolg von Frauen, nicht zurechtkamen. In Winnenden hat ein Jugendlicher zwölf Menschen erschossen, elf davon Frauen. Und in Baden-Württemberg soll ein 18-Jähriger zusammen mit seinem 19-jährigen Freund erst seine beiden älteren Schwestern erschossen, dann mit den Eltern gegessen und sie dann auch niedergemetzelt haben. In beiden Fällen sollen die Jungs sich zu wenig beachtet gefühlt haben. Von den Mädchen. Und zurückgesetzt ihnen gegenüber. Was ist das aber, das junge Männer dazu treibt, immerzu im Mittelpunkt stehen zu müssen? Und sei es durch Gewalt. Haben nicht in vielen Ländern der Welt die Mädchen ungleich schlechtere Startchancen als die Jungs, ohne kriminell zu werden? Nur fünf Prozent aller Strafgefangenen in Deutschland sind weiblich. Warum ist der Gangster in der Musik und im Kino das gängigste Bild für Männlichkeit geworden?

In früheren Zeiten war die Rolle, die Männer in der Gesellschaft zu übernehmen hatten, klar besetzt, man wurde beim Militär gedrillt, musste in den Krieg ziehen. Zu Hause galt es schwere körperliche Arbeit zu verrichten oder Vaters Geschäft zu übernehmen. Man gründete eine Familie und überwachte streng die Kinderschar. Und heute?

Körperliche Arbeit ist allenfalls noch auf dem Bau gefragt, der größte Teil der Angestellten sitzt ganze Tage gekrümmt vor dem Computer und fühlt sich wohl erst daheim männlich, wenn "World of Warcraft" auf dem Bildschirm erscheint. Kriege in Mitteleuropa sind glücklicherweise ausgestorben. Das Bild des Soldaten als Mann hat seit dem Vietnamkrieg sowieso ausgedient. Es war die erste Generation von Kämpfern, die nicht mehr zurück ins Leben fanden, die nicht als Helden zurückkehrten. Das elterliche Geschäft kann kaum noch einer übernehmen, zu viele Großkonzerne sind dazwischengetreten. Und spätestens die Finanzkrise hat es an den Tag gebracht: Manager, die ja in einer Männerdomäne arbeiteten, als entscheidungsfreudig galten, haben Anleger belogen und betrogen, weil sie gar nicht wussten, wovon sie redeten. Das Bild vom Mann, der Verantwortung übernimmt, der für Ziele streitet und für Inhalte geradesteht, hat gelitten, ob als Manager, der seine Firma in den Abgrund gewirtschaftet hat, oder als Familienvater, der sich davonschleicht und seine Frau mit Kindern allein zurücklässt.

Wenn es denn überhaupt zur Ehe kommt. Das durchschnittliche Heiratsalter ist bei Männern inzwischen bei 37 Jahren angekommen. 50 Prozent der 25-Jährigen wohnen noch bei Mama. Der Historiker Paul Nolte beschreibt in seinem Buch "Generation Reform": "Was man zunächst als verzögerte Adoleszenz beschrieb - 25-Jährige, die noch von Mutter die Wäsche waschen ließen -, ging nahtlos in eine Infantilisierung des Erwachsenseins über." Heute haben wir nur noch halb so viele Kinder wie vor 40 Jahren. 45 Prozent aller Männer unter 45 wollen keine Familie mehr gründen. Und von denen über 45, die es dann doch noch tun, bekommen nur noch drei Prozent Kinder. Stattdessen laufen sie lieber als Gesinnungsjugendliche in Turnschuhen herum, obwohl sie schon unter Haarausfall leiden. Jung sein ist in, heißt es seit Jahrzehnten. Notfalls auch bis zur Pensionsgrenze. Noch vor 100 Jahren wurde Jungen als kleine Männer angezogen, mit einem Matrosenanzug. Heute ziehen sich Männer gern wie kleine Jungs an.

Männer, das sind schon seit Jahrzehnten nur noch die Herren der Erschöpfung. Inzwischen trauen sich gestandene Männer oft nicht mal mehr, Frauen zu erobern. Ein 50-Jähriger, der früher nichts anbrennen ließ, gesteht, es sei ihm "peinlich", draufgängerisch auf eine Frau zu wirken. Und ein Altersgenosse behauptet: "Ich lass mich lieber von Frauen erobern. Da riskiere ich weniger."

Wenn's denn mal klappt. Noch sitzt er rum und wartet. Eine Freundin behauptete jüngst: "Die Männer haben nach wie vor immer nur das eine im Kopf. Nur ist das inzwischen leider die Arbeit."