Professor Ludwig Salgo ist Berater der Bundesregierung. Er fordert, die Rechte der Pflegeeltern zu verbessern.

Hamburg. Hamburger Abendblatt: Herr Professor Salgo, im Fall des Pflegekindes Dennis sind die Pflegeeltern, die aus Angst um die Gesundheit von Dennis unbegleitete Umgänge nicht umgesetzt haben, regelmäßig mit Strafgeldern belegt worden - kennen Sie ähnliche Fälle?

Professor Ludwig Salgo: Durchsetzungen von Umgangsentscheidungen mit Zwangsmitteln stehen unter keinem guten Stern. Es entstehen dabei häufig Kollateralschäden mit nicht wieder gutzumachenden Folgen. Wenn überhaupt, dann müssen Zwangsmittel des Staates immer unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Ultima Ratio zum Einsatz kommen. Der vorliegende Fall ist bei Weitem noch nicht aufgeklärt, um zu einer Sachentscheidung zu kommen, schon gar nicht zu Anordnungen unter Einsatz von Ordnungsmitteln. Es gab zahlreiche Hinweise, nicht nur von den Pflegeeltern, die alle unbeachtet blieben. Offensichtlich sollte Umgang um jeden Preis durchgesetzt werden. Pflegeeltern übernehmen auch die Pflicht, auf gesundheitliche Entwicklungen des Kindes besonders zu achten. Würden die Pflegeeltern die massiven Reaktionen des Kindes auf und nach dem Umgang nicht vorgebracht haben, dann hätten sie eine Pflichtverletzung begangen. Es mag Fälle geben, wo die Verhaltensweisen von Pflegeeltern nicht nachvollziehbar erscheinen, da mag ausnahmsweise die Durchsetzung mit Ordnungsmitteln angedacht werden.

Auch dem Amtsvormund wurde ein Ordnungsgeld in Höhe von 5000 Euro angedroht. Haben Sie Ähnliches erlebt?

Salgo: Ordnungsgelder gegenüber einem Amtsvormund sind völlig ungewöhnlich und nicht der übliche Weg unter Staatsorganen. Es entsteht von außen der Eindruck, dass hier das Kind auf dem Altar des Rechthabenwollens und -müssens geopfert werden soll.

Wie wichtig ist für das Kind der Umgang mit seinen leiblichen Eltern?

Salgo: Bei erheblich vorbelasteten und deshalb fremdplatzierten Kindern steht nicht der Umgang mit den Eltern an erster Stelle. Das wichtigste Ziel ist, sie aus den akut bestehenden Gefährdungszusammenhängen herauszunehmen, ihre traumatischen Erfahrungen unter therapeutischer Hilfestellung aufzuarbeiten und für sie kontinuierliche und positive Entwicklungsbedingungen sicherzustellen. Die Unterbringung bei Pflegeeltern bietet, wenn entsprechende Unterstützungssysteme zum Einsatz kommen, gute Chancen auch für Kinder wie dieses. Allerdings dürfen solche Kinder durch Umgang nicht immer wieder in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden, was hier offensichtlich wohl geschehen ist, aber nicht durch eine längst überfällige Begutachtung aufgeklärt worden war. Für stabilisierte Kinder kann Umgang eine wichtige Bedeutung haben, soweit die Umgangsberechtigten nicht immer wieder die Lebensarrangements infrage stellen, weil sie eine neue Rolle für sich und ihr Kind gefunden haben.

Gibt es in Deutschland eine Art Dauerpflege für Pflegekinder "ohne Rückkehroption" in ihre Herkunftsfamilie?

Salgo: Das Sozialgesetzbuch bietet eine klare Orientierung: "Vollzeitpflege (bietet) Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform" (§ 33 SGB VIII). Gelingt es nicht, "innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums, die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie so weit zu verbessern, dass sie das Kind wieder selbst erziehen kann" (...), dann ist eine "dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive" zu erarbeiten. Das Jugendhilferecht ist sehr darauf bedacht, dem Zeitempfinden des Kindes und seinen Kontinuitätsbedürfnissen Rechnung zu tragen.

Müsste man Dauerpflegeverhältnisse rechtlich stabilisieren?

Salgo: Das Kinder- und Jugendhilferecht ist auch hier eindeutig: "Vor und während einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie ist zu prüfen, ob die Annahme als Kind in Betracht kommt" (§ 36 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Allmählich nehmen die Jugendämter diese Verpflichtung ernster als früher. Der Adoption steht immer wieder die fehlende Einwilligung der Eltern oder Elternteile entgegen, die nur der Familienrichter unter engen Voraussetzungen, die zu sehr auf die Eltern und zu wenig auf die Lebenssituation des Kindes gerichtet sind, ersetzen kann. So bleiben Kinder ohne Rückkehroption in rechtlich ungesicherten Lebensverhältnissen. Hier fordern zunehmend Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, Verbände und Praktiker 1. die Rückkehroption ernsthaft innerhalb eines aus kindlicher Perspektive vertretbaren Zeitrahmens zu überprüfen, falls diese Option nicht umsetzbar ist. 2. die Schwebezustände durch Verwirklichung der Adoptionsoption zu beenden. Und 3. fordern sie eine rechtliche Absicherung der Dauerpflege, die nicht mehr jederzeit infrage gestellt werden kann.

Erkennen Sie bei Familienrichtern eine Tendenz zum "Umgang zu jedem Preis"?

Salgo: Aufgrund von Aus- und Fortbildungsdefiziten in den Bereichen Bindung, Trauma, kindliches Zeitempfinden oder Entwicklungspsychologie besteht zum Beispiel die Gefahr, dass Richter die Unterschiede zwischen Pflegekindern, die aus ihrem Herkunftsmilieu wegen erheblicher Gefährdungen nach Scheitern ambulanter Hilfen herausgenommen werden mussten, und "Scheidungskindern" verkennen. Umgangskontakte haben bei Scheidungskindern, die ja in der Regel zuvor nicht erheblich durch Eltern gefährdet worden waren, eine völlig andere Bedeutung als für wegen Gefährdungen fremdplatzierte Kinder. Es besteht generell eher eine Überschätzung der Bedeutung des Umgangs für die Kindesentwicklung. Umgang darf nie zu Kindeswohlgefährdung führen.

Was muss sich ändern, um die Stellung der Pflegeeltern zu verbessern?

Salgo: Stichworte wären: Verpflichtende interdisziplinäre Aus- und Fortbildung der Familienrichter; Einführung einer rechtlichen Absicherung der Vollzeitpflege im Familienrecht des BGB; ein Beschwerderecht der Pflegeeltern auch in Umgangssachen vor Gericht; Spezialdienste in den Jugendämtern; vernünftige Fallzahlen für die Fachkräfte, die zu den genannten Themen laufend fortgebildet werden müssten.

Was raten Sie den Pflegeeltern?

Salgo: Sie sollten sich darüber klar werden, was sie wollen und was sie können, auch unter extrem schwierigen Bedingungen. Es könnte vieles für eine Rückführung von Dennis zu seinen 'sozialen Eltern' sprechen. Allerdings bedürfen sie und das Kind hochqualifizierter Unterstützung. Dennis braucht einen selbstsicheren, unabhängigen Vormund, der es ernst meint mit der Weisungsfreiheit, sich nicht hineinreden, sondern sich von Fachleuten beraten lässt. Dennis wäre ein unvoreingenommener und gut aus- und fortgebildeter Richter zu wünschen, der es mit dem Vorrang des Kindeswohls ernst meint. Das alles sind aber Bedingungen, für deren Sicherstellung nicht die Pflegeeltern, sondern Staat und Gesellschaft die Verantwortung tragen. Staat und Gesellschaft sind Dennis, aber auch seinen Pflegeeltern schuldig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die zum Gelingen seines schwierigen Starts beitragen, statt ihn zu gefährden.

Welche Chancen hat das Kind noch?

Salgo: Unter den genannten Bedingungen könnten für Dennis alle Chancen zu einer guten Entwicklung offenstehen. Der Vormund kann sofort Dennis in sein bisheriges Umfeld zurückführen, das Jugendamt die notwendigen Hilfen sicherstellen, das Gericht auf der Grundlage eines qualifizierten Gutachtens zu einer differenzierteren Entscheidung kommen. Dies setzt aber voraus, dass nicht ein Machtdenken, sondern Vernunft und guter Wille bei allen Beteiligten das Handeln leiten. Es geht nicht um einen 'Gesichtsverlust', sondern ausschließlich um die Sicherung des Kindeswohls.