In Neuland ist noch alles möglich. Der ungewöhnliche Stadtteil im Bezirk Harburg ist ein Filetstück auf der Landkarte und hat einen eindeutigen Charakter.

Sagen wir doch, wie es ist: Einige Hamburger Stadtteilnamen sind eher unromantische Gebrauchsgegenstände. Hamm, Horn, Cranz? Bei Einsilbern wie diesen ist, poetisch betrachtet, nicht so wahnsinnig viel zu holen oder hineinzuinterpretieren. Aber Neuland? Ganz andere Namens-Liga, völlig anderer Tonfall. Das zergeht auf der Zunge, das klingt nach Weite, Freiheit, nach "Go west, young man!", offenem Himmel und Entdeckerfreude. "Was ist ein Name", heißt es in Shakespeares "Romeo und Julia". Eben. Wo Neuland ist, ist noch alles möglich. Wo Neuland ist, da lass dich nieder, fade Menschen singen woanders Lieder.

Hamburgs Neuland liegt, wie viele dort finden, praktisch mittendrin im Stadtgebiet und ist dennoch, wie es sich für Geheimtipps gehört, bestens versteckt. So gut, dass wir an der Ausfahrt vom Schießstand des Schützenvereins fast ein phlegmatisch herumspazierendes Huhn überfahren hätten. Eigentlich kein Wunder: Hier gebe es mehr Tiere als Menschen, hieß es bei ersten Informationstelefonaten.

Klare Grenzen, eindeutiger Charakter

Theoretisch und kommunalpolitisch gehört Neuland durch das Groß-Hamburg-Gesetz seit 1937 zu Hamburg, in der Praxis ist es nach wie vor ein Weltchen für sich. Mit klaren Grenzen und eindeutigem Charakter. Auf der Landkarte ist dieser Stadtteil ein Filetstück in bester Lage, wenn auch nicht soganz nach jedermanns Geschmack. Eher etwas für Gourmets.

Der Stadtteil-Pate: Joachim Mischke

Die Westgrenze nach Harburg bilden die Eisenbahngleise, direkt dahinter wird es, verglichen mit Neuland selbst, ungemein hektisch. Dank der Autobahntrasse gibt es eine Art West-Neuland und ein Ost-Neuland - mit kleinen, feinen Unterschieden in der Mentalität und auch im Straßenbild. Der Teil westlich der A 1 ist geprägt von Fachwerk-Fassaden und dem Gewerbegebiet Großmoorbogen. Außerdem lockt hier der Neuländer See, ein Baggersee mit einer Wasserski-Seilbahn; gleich zwei Attraktionen, die viele Hamburger gern nutzen. Östlich geht es rustikaler und noch ländlicher zu.

Wohnen wie auf Halligen

Im Norden fließt die Süderelbe, der Rest, garniert mit sechs Windrädern, grenzt im Süden an Gut Moor und im Osten an Niedersachsen. Besonders apart macht sich das in der Fünfhausener Straße bemerkbar. Ihren Namen verdankt sie den fünf alten Häusern, die - wie man es sonst nur von Halligen kennt - auf sogenannten Wurten stehen, leicht erhöht, falls doch mal wieder das Wasser ungebeten zu Besuch kommt. Ihre schönste Besonderheit ist nur auf Behördenpapier sichtbar: Bei einigen Häusern läuft die Landesgrenze quer über die Grundstücke. Tritt man vors Haus, ist man in Hamburg, doch geht man in den Garten, steht man in Niedersachsen. Es gab Firmen, die das nutzten, um Gewerbesteuer zu sparen.

Töchter & Söhne

Für solche und alle anderen Informationen über Neuland ist der frühere Industriekaufmann Rudolf Harms erste und beste Anlaufstelle. Der Sohn des letzten Bürgermeisters wohnt im früheren Rathaus, einem wuchtigen Klinkerbau. Unsere Erkundungstour begann mit Klönen, Kaffee und Mettbrötchen beim Bäcker im Gewerbegebiet, sie endete mit Klönen, Kaffee und Kuchen bei Herrn Harms. So ist das hier.

Weil Neuland so nah ans Wasser gebaut ist, müssen sich die wenigen Menschen und das viele Feuchte miteinander arrangieren. Das Haltestellenschild vom 149er-Bus trägt den Zusatzvermerk "Sammelpunkt bei Sturmflut" - eine Vorsichtsmaßnahme: Nach der Flut im Februar 1962 will man hier besser vorbereitet sein. Der alte Deich brach damals an einigen Stellen, als bleibende Erinnerung daran haben manche Hausbewohner nun Bracks, kleine Teiche, vor ihrer Tür. Der neue Deich ist höher, sicher ist sicher.

Wasserstand immer im Blick

Damit im Moor- und Marschland von Neuland der Wasserstand seine Ordnung hat, wird der Neulander Schleusenverband aktiv. Die Mitgliedschaft ist für alle Grundbesitzer Pflicht, die rund 600 Mitglieder haben darauf zu achten, dass die Wettern, die flachen Gräben auf ihren Grundstücken, sauber und verstopfungsfrei bleiben. Eine ganz besondere Rolle kommt dabei dem Schleusenwart zu, der, wenn es sein muss, mehrmals täglich den Wasserstand dieser Gräben zu regulieren hat.

Kurz & knapp

Zahlen & Fakten

Name & Geschichte

Die andernorts übliche Infrastruktur des täglichen Bedarfs ist für Neuland schnell erzählt. Es gibt sie nicht. Es gab mal Tante-Emma-Läden, es gab schmucke Lokale mit Deichblick. Es gibt keine Kirche, keine Apotheke, keine Videothek, keine Dönerbude, kein Schuhgeschäft, noch nicht mal eine Eisdiele. Man hatte mal einen eigenen Polizisten, der im früheren Rathaus einquartiert war und sein Dienstzimmer beim Nachbarn hatte; heute schaut ein Bünabe (bürgernaher Beamter) aus Harburg vorbei und nach dem Rechten. Dafür gibt es eben: Neuland. Nicht viel, gerade genug, damit sich die Einheimischen wohlfühlen, während der Rest der Welt sie hier in Ruhe lässt. Was man so benötigt fürs Leben, bekommt man im Rest der großen Stadt.

Wer hier lebt, der will nicht weg

So sieht das auch die Malerin Petra Hagedorn, die sich nicht vorstellen kann, woanders zu wohnen und zu arbeiten: "Neuland bietet die Ruhe, die ich brauche, und Urbanität, wenn ich sie möchte." Im sehr diskret pulsierenden Zentrum am Neuländer Elbdeich, wo sie zu finden ist, hat man alle Sensationen in Steinwurfweite voneinander entfernt. Die Grundschule gehört dazu, sie ist mit 115 Schülern, von denenzwei Drittel aus den niedersächsischen Nachbargemeinden kommen, die drittkleinste Hamburgs (Neuwerk und Cranz bieten weniger) und hat einen kleinen Schulzoo. Neben der Eingangstür erinnert eine Plakette auf Wadenhöhe an den Wasserstand bei der Jahrhundertflut, neben der Zufahrt steht ein Sandsackdepot zur Deichverteidigung. Nebenan kicken die Spieler des TSV Neuland auf dem Fußballplatz und auf Bezirksliganiveau. Das Vereinsheim neben der Seitenauslinie trägt den Namen "Grotte", sieht aber nicht so aus, womit bewiesen wäre, dass die Neulander zur Selbstironie fähig sind.

In unmittelbarer Nähe der nächste Superlativ: der älteste Baum der Stadt, eine auf über 850 Jahre geschätzte Eibe, die 1936 zum Naturdenkmal erklärt wurde. Der Stamm ist so gut wie hohl und wird durch ein Metallkorsett in Form gebracht, doch das Grün macht überhaupt nicht den Eindruck, dass man es hier mit einer morschen Antiquität zu tun hätte.

Neuland ist ein Lebensgefühl

Eine weitere historische Spezialität ist die "Neuländer Communion". An jedem 2. Februar seit 1296 treffen sich die symbolischen Nachfahren der ersten Besiedler, um zu Ehren von Herzog Otto II. von Braunschweig-Lüneburg zu essen und zu trinken. Bei dieser Gelegenheit müssen die Pächter der Ländereien ihre Pacht bezahlen.

"Neuland ist kein Dorf, aber auch kein Stadtteil", fasst Rudolf Harmsdie Liebeserklärung an sein Stückchen Heimat zusammen, während uns eine steife Brise die Frisuren zerzaust. Neuland ist ein Lebensgefühl und bleibt das auch.

In der nächsten Folge am 26.5.: Hamm