Der Bäcker Wolfgang Hamdorf fordert die Unabhängigkeit der ehemals selbstständigen Stadt Altona - jedoch mit einem Augenzwinkern.

Othmarschen. Wer glaubt, dass Altona nur ein Stadtteil der Hansestadt Hamburg ist, hat die Liebermannstraße in Othmarschen noch nicht passiert. Denn hier weht sie hoch im Frühlingswind: die Flagge des freien Altona. Unabhängig, stolz, etwas anders. Gehisst wird das gute Stück, je nach Lust und Laune, von Bäcker Wolfgang Hamdorf. "Ich bin Altonaer", pflegt der gebürtige Hanseat zu sagen, "und kein Hamburger. Darauf bin ich stolz." Allerdings - dies sei, um Missverständnisse zu vermeiden, erwähnt - meint er das mit einem Augenzwinkern.

Die Stammgäste der kleinen Bäckerei kennen die Marotte des 79-jährigen Spaßvogels. Wenn ihm danach ist, hisst er vor seinem kleinen Ladengeschäft das jeweils Passende: mal die Flagge Altonas, die des Fußballvereins Altona 93, an Spieltagen die des FC St. Pauli und, mit intensivem Augenzudrücken, die des HSV. Flaggen für die Fußball-EM im Juni und die Olympischen Sommerspiele im August liegen schon parat. Und wenn mal wieder Schietwetter ist, dann gibt's auch dafür das passende Teil. Einmal im Jahr steht "Prost Neujahr" auf dem Tuch.

Mehr als 40 unterschiedliche Flaggen hat Herr Hamdorf auf Lager. Die Altonaer war vor gut 20 Jahren die erste, für fast 200 Mark bei Fahnenfleck am Großen Burstah erstanden. Fast alle anderen stammen von Kumpel und Altona-93-Weggefährten Uwe Badekow, der auf dem Fischmarkt einen Stand unterhält. Bei ein paar Bierchen entstand seinerzeit die Idee mit dem Flaggenmast. Bis heute sorgt dieser für erstaunte Blicke und reichlich Gesprächsstoff. Denn bei Bäcker Hamdorf kann man nicht nur Rundstücke und Butterkuchen, sondern auch belegte Brötchen und Kaffee kaufen. Vor der Tür laden drei winzige Tische, eine Bank und zwei gewaltige Baumstämme als Tische zum Klönschnack ein. Die Mischung des Publikums aus Müllmännern, Handwerkern, Hundebesitzern, Studenten, Kleingärtnern und Geschäftsleuten in Nadelstreifen garantiert deftige Kost - auch verbal.

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Nicht selten geht's rund. Besonders dann, wenn Wolfgang Hamdorf seine Plädoyers für ein freies Altona hält. Augenzwinkernd, wie gesagt. Um zusätzliche Würze in die Diskussion zu schmeißen, fordert er die Unabhängigkeit des Stadtteils im wilden Westen Hamburgs. Wallt die Debatte allzu heftig, zückt er zur Versöhnung sein Schlüsselbund. "Altona - eine Stadt wie keine andere" steht darauf. Darauf kann man sich allerbestens verständigen.

Schließlich weiß der Mann, wovon er spricht. Schon 1947 führten seine Eltern einen winzigen Milchladen an der Elbchaussee 10. "Unten, also am guten Teil der Elbchaussee", meint Hamdorf. Vater Kurt war als Stewart auf den Weltmeeren an Bord, während Mutter Irene zu Hause das Geschäft schmiss. Und Fahrensmann Kurt predigte seinem Sohn Wolfgang das wirklich Wichtige im Leben: "Altona, mien Buttje, ist was ganz Besonderes!"

Folglich kann der gebürtige Altonaer Wolfgang Hamdorf seine Kundschaft heutzutage mit Fakten von früher beglücken. Um 1535 wurde Altona als Fischersiedlung in der Grafschaft Pinneberg in Holstein gegründet. Der Legende nach betrieb dort ein Fischer namens Joachim von Lohe eine florierende Rotbierkneipe, die nicht nur Berufskollegen von der Elbe, sondern auch Handwerker anzog. Nach Auffassung des Hamburger Rates spielte sich dieses süffige Leben "all to nah" an der Stadtgrenze ab. 1591 brach sogar ein Grenzkrieg aus, der schließlich vor dem Reichskammergericht ausgetragen wurde und erst 1740 durch einen Vergleich endete. Ebenso akzeptierte Hamburg Altonas Stadtprivileg erst 1692.

Lange Zeit gehörte die Stadt dann zum dänischen Königreich, bevor sie 1867 preußisch und 1937 Hamburg einverleibt wurde. Dass mit Max Brauer ein früherer Altonaer Bürgermeister nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Hamburger Chefsessel Platz nahm, mag die Sache für manchen Lokalpatrioten erleichtert haben. An der Liebermannstraße in Othmarschen sorgt all das jedenfalls nach wie vor für Gesprächsstoff.

In den Neubau mit der Hausnummer 46 zog Wolfgang Hamdorf 1956 ein. Bis 1992 bot er Milch, Butter, Käse, Quark und Getränke an. Anschließend wurde daraus fünf Meter weiter die Bäckerei Hamdorf. Mit Ehefrau Wiebke und Tochter Wenke betreibt Hamdorf das in der Nachbarschaft beliebte Geschäft. "Irgendwie kennt hier jeder jeden", sagt er. Viele Freunde von Altona 93 zählen dazu. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Hamdorf Mitglied - Stammplatz im Stadion inklusive.

Noch intensiver sind die Drähte zu den ehemaligen Schülern der Schule Karl-Theodor-Straße. Man trifft sich zweimal jährlich; bald steht das 65. Klassentreffen an. Zu fortgeschrittener Stunde sind sich die alten Freiheitskämpfer einig: Altona sollte wieder unabhängig sein.

Bilder in der Bäckerei Hamdorf erinnern an diese schönen Zeiten. Sie zeigen den alten Altonaer Bahnhof, das alte Rathaus, alte Wappen. Hamdorf, ganz ehrlich auch Hamburger mit Leib und Seele, verweist auf Feinheiten, die nicht jeder kennt: Im Altonaer Wappen mit den drei Türmen und dem Elbwasser ist das Burgtor geöffnet, im Hamburger geschlossen. Typisch, meint er. Hamdorfs Interpretation: Die offene Tür symbolisiert die besonders freiheitliche und tolerante Einstellung der Altonaer. Entsprechend dürfen sogar Hamburger in seinem Laden einkaufen.

Wenn fremde Kunden nach dem Grund der Altona-Flagge vor der Ladentür fragen, zückt Wolfgang Hamdorf seinen Personalausweis. Als Geburtsort ist dort "Altona" notiert. Mit Stempel. Kein Witz. Ob irgendwelche Bösewichte deswegen vor ein paar Jahren den Mast geklaut haben? Längst ist ein neuer in den Grund gerammt. Das gefällt allen. Mit einer Ausnahme: Bewohner der oberen Etage beschwerten sich mehrfach wegen der vor ihrem Fenster wehenden Flagge. Ganz im Ernst. "Das können keine Altonaer sein", meint Hamdorf zu wissen.

Nur in einem Punkt zeigt er Argumentationsschwäche. Vor einiger Zeit sind Wiebke und Wolfgang Hamdorf von der Liebermannstraße an den Boothsweg nach Hochkamp gezogen. Weiter weg vom Stadtkern Altona? Nicht wenige seiner Kumpels werten das als Fahnenflucht.