Ein verzögerter Ausstieg aus der Kernkraft, wie ihn manche in Industrie, Regierung und Medien fordern, ist weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll

Es ist wie so oft: Wenn gefühltermaßen alle pro sind, melden sich über kurz oder lang die Andersdenker mit ihrem Kontra, wider den Meinungsmainstream, mitunter pro Distinktionsgewinn. Der jüngste Fall solcher Gegenrede betrifft den Atomausstieg, und auf den ersten Blick erscheint sie durchaus berechtigt. Selten wohl war eine politische Kehrtwende so durchsichtig taktischer Natur, so unglaubwürdig, so fahrlässig wie Merkels Reaktion auf Fukushima, die Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im Visier.

Die Rechnung ging nicht auf, Deutschland bekam seinen ersten grünen Ministerpräsidenten. Dennoch mehren sich merklich die Stimmen, die vor einem schnellen Atomausstieg warnen und ein unverbindliches Szenario für klima- und wirtschaftsfreundlicher erklären. Und oft genug sind es Stimmen, die weder unter Atomlobby- noch unter Hirnzellenatomisierungs-Verdacht stehen. Die Sache ist nur: Ihre Argumente werden dadurch nicht besser. Die drei Hauptthesen im Einzelnen:

1. "Ein langsamer Ausstieg ist umweltschonend." Es stimmt, infolge der Sofortabschaltung von sieben Meilern sind wir vom Export- zum Importland geworden und erkaufen unser gutes Gewissen weitenteils durch Atomkraft aus Frankreich und Tschechien. Das ist in der Tat kein guter Deal. Nur, vergessen sollte man dabei zweierlei nicht: Die zum AKW-Betrieb notwendige Uranerzgewinnung und -aufbereitung ist alles andere als ökologisch, jede Menge Gifte entstehen, ständig sind Gefahrenguttransporte unterwegs. Daher gilt: Je weniger AKW-Anlagen, umso besser. Und auch wenn AKW im Betrieb kaum CO2 freisetzen - bei Anlagenbau und Urangewinnung sieht es ganz anders aus. Im Schnitt kommt AKW-Strom auf rund 40 Gramm CO2 pro Kilowattstunde. Das ist viel weniger als bei Kohlekraftwerken und nur wenig mehr als bei Windenergie. Vor allem aber ist es ein Gaskraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) vergleichbarer Wert. In Deutschland wird eifrig an KWK-Anlagen gebaut, schon bald dürften sie jene Brückentechnologie verkörpern, die wir brauchen. Mit einer AKW-kompatiblen CO2-Bilanz, aber ohne die Risiken.

2. "Ein langsamer Ausstieg ist ökonomisch." Zu sagen, Atomstrom sei günstig, ist ungefähr so, als würde man sich ein TV-Gerät anschaffen und als Kosten nur die GEZ-Gebühren veranschlagen. Sprich, für den reinen AKW-Betrieb ist die These korrekt. Ungleich teurer wird es bei den Gesamtkosten. Allein für Forschung, Hardware und Sicherheit hat die Republik zig Milliarden spendiert - Ende offen. Umgekehrt geben die Stromkonzerne die Milliardengewinne des billigen AKW-Betriebs seit jeher nur bedingt an die Verbraucher weiter, da sie ihre Strompreise an der Börse erzielen. Dass durch einen schnellen Ausstieg der Strompreis stark steigt, hält die Verbraucherzentrale für sehr unwahrscheinlich. Sie geht von rund 50 Cent mehr pro Monat und Haushalt aus. Und schließlich, von wegen günstig: Der größte Preistreiber im Stromsektor war das Oligopol. Die Energieversorgung der Zukunft aber wird dezentral sein. Jedes weitere AKW-Jahr hemmt den Strukturwandel.

3. "Ein langsamer Ausstieg birgt weniger Risiken." Es gehört Verwegenheit dazu, Atomenergie und Ökologie in einem Atemzug zu nennen. Selbst die Industrie gibt zu, absolute GAU-Sicherheit sei nicht garantierbar, alles andere wäre nach Fukushima auch lachhaft. Erschreckend bleibt, wie leichtfertig Politik und Betreiber ein solches Risiko in Kauf nehmen. Seit 9/11 wissen wir, dass Passagierjets als Waffe eingesetzt werden. Laut jüngsten Studien ist allerdings keines der deutschen Kraftwerke gegen den Absturz eines Jumbos gewappnet, vier halten nicht einmal Kleinflugzeugen stand, darunter Brunsbüttel bei Hamburg. Der Schluss kann nur sein: Wenn ein einziger Irrer am Steuer einer Cessna einen Gutteil des Landes auf absehbare Zeit unbewohnbar machen kann, dann ist jeder Betriebstag unserer 17 Meiler einer zu viel.

Ganz abgesehen von den Risiken durch bereits angefallenen AKW-Abfall. Für jährlich Hunderte Tonnen gibt es kein adäquates Endlager - beim Salzstock bei Gorleben fehlt ein wasserdichter Gesteinssockel. Dass das auf Dauer gut geht, glaubt im Ernst niemand. Und munter produzieren wir weiter tausendjährigen Abfall ohne Mülltonne.

Das Gegenargument lautet zurzeit: Es droht der große Strom-Blackout! Nach Faktendurchsicht schlage ich vor, da lassen wir uns doch mal überraschen. Und hoffen bis dahin, dass die Märchenstunde der Interessenverbände bei Ministern und Nonkonformisten kein so nachhaltiges Öko-Blackout zeitigt, wie es zuletzt den Anschein hatte.