Christoph von Lieven, 48, ist Energie- und Strahlenexperte und arbeitet seit sieben Jahren bei Greenpeace

1. Hamburger Abendblatt:

Jetzt ist bestätigt worden, dass es in Fukushima nicht nur in Block 1, sondern auch in Block 2 und 3 des AKW zu einer Kernschmelze gekommen ist. Ist die Bevölkerung wochenlang belogen worden?

Christoph von Lieven:

Ja, die Menschen in Japan und die ganze Welt wurden und werden mit Lügen ruhiggestellt.

2. Wie begründen Sie das?

Von Lieven:

Weil es nicht sein kann, dass erst jetzt bekannt geworden ist, dass es eine Kernschmelze gegeben hat. Die Fakten sind auch von unabhängigen Wissenschaftlern wie John Large offensichtlich richtig beurteilt worden. Als die Verantwortlichen zugegeben haben, dass in Block 1 eine Kernschmelze stattgefunden hat, haben sie dazu ja einen genauen Zeitplan veröffentlicht. Demnach ist es bereits 16 Stunden nach dem Erdbeben zu einer Kernschmelze gekommen. Die Daten müssen also erhoben worden sein, als die Messgeräte noch funktioniert haben. Entweder hatte man die Ergebnisse also da schon - oder man hätte sie nie mehr bekommen können.

3. Auch die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) hat lange bestritten, dass es in Fukushima eine Kernschmelze gegeben hat.

Von Lieven:

Für uns ist das der eigentliche Skandal, und es sagt viel über die Qualität der Beurteilung der Sicherheit von deutschen Atomkraftwerken aus. Es wäre erstaunlich, wenn die GRS nichts gewusst hat, da seit dem Unfall im US-Kernkraftwerk bei Harrisburg 1979 bekannt ist, dass es bei einem völligen Freistand der Brennstäbe zwingend zu einer Kernschmelze kommt. Oder aber sie haben die Zurückhaltung der Information mitgetragen, dann hätte auch die GRS die Menschen belogen.

4. Wie gefährlich ist der Reaktorkern, der sich in Block 1 durch den Stahlboden gefressen hat?

Von Lieven:

Durch die Lecks läuft immer wieder kontaminiertes Wasser aus. Die Gefahr, dass die Kettenreaktion nicht gestoppt werden kann, es zu neuen Wasserstoff-Explosionen kommt und nicht nur strahlendes, sondern auch hochgiftiges Material wie Plutonium ins Grundwasser gelangt, ist real. In der Folge kann das bedeuten, dass die Sicherungsarbeiten stark erschwert werden und die Belastung von Mensch und Umwelt noch viel größer wird.

5. Haben Sie Informationen über die radioaktive Belastung der Lebensmittel?

Von Lieven:

Vieles, was in der Evakuierungszone gepflanzt ist, wird in den nächsten Jahren so hoch belastet sein, dass es nicht verzehrt werden kann. Vor zwei Wochen haben Fischer unseren Greenpeace-Mitarbeitern Fisch verkauft, den sie 60 Kilometer von Fukushima entfernt aus dem Meer gezogen haben. Er war mit 14 000 Becquerel pro Kilo belastet - der Grenzwert liegt bei 600 Becquerel pro Kilo.