Die Studentin lebte ein gewöhnliches Leben, bevor sie sich dem “Dschihad“ anschloss. Sie reiste nach Waziristan. Was ist aus ihr geworden?

Es sind Bilder, die Johanna nicht vergessen kann. Leila mit dem fremden jungen Mann an der Bar, wie sie lacht, den Kopf in den Nacken wirft. Leila mit dem Mann auf der Tanzfläche, sichtbar ausgelassen. Johanna weiß, dass es sinnlos ist, sich schuldig zu fühlen. Sie tut es trotzdem.

Hätte sie Leila nicht mitgenommen zu dieser Party, sie lägen jetzt vielleicht zusammen in der Sonne an der Alster. Stattdessen sitzt Leila mit einem Baby in der Wüste Waziristans, einer pakistanischen Bergregion an der Grenze zu Afghanistan, in einem Terrorcamp. Der Mann ist tot.

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Die Geschichte von Leila Bah ist auch die Geschichte einer großen Fassungslosigkeit. "Niemals haben wir gedacht, dass es so enden könnte", sagt Johanna, "das heißt, geendet hat es natürlich noch nicht." Es ist alles, woran sie sich klammert in ihrem Kummer: Irgendwann, hofft Johanna, wird sie Leila wiedersehen. Leila, die ihre beste Freundin war, ihre Seelenverwandte. Die vor zwei Jahren in ein Flugzeug Richtung Saudi-Arabien gestiegen ist, um ihr Leben in Deutschland hinter sich zu lassen.

In YouTube-Videos wirbt der Mann, den Leila in der Disco traf, für den so genannten Heiligen Krieg. Unter dem Namen "Abu Askar aus Deutschland" preist er "Vorzüge des Dschihad", spricht von gottgläubigem Leben, von Freiheit und Brüderlichkeit, ein riesiges Messer in der Hand, ein Maschinengewehr im Schoß. Als sein Gesicht 2009 erstmals in einem Propagandafilm der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) auftaucht, ist der 26-Jährige, der eigentlich Shahab D. heißt, dem Hamburger Verfassungsschutz nicht unbekannt. Vorher besuchte er mehrmals wöchentlich die Al-Kuds-Moschee am Steindamm, die als Keimzelle für fundamentalistisches Gedankengut gilt.

Leilas Mutter ist Deutsche, der Vater stammt aus Westafrika. Das Viertel, in dem Leila Bah aufwächst, gehört zu den besseren Wohngegenden Hamburgs. Zwischen liebevoll gestalteten Balkonen und belebten Spielplätzen geht Leila in den Kindergarten, zur Grundschule und auf das Gymnasium. Dass es Leila wichtig war, gut aufgenommen zu werden, sagt ihre erste Klassen- und Englischlehrerin an der Oberschule. Und dass Leila einen guten Stand in der Klasse hatte.

Denn Leila ist eine, die sich kümmert, die vermittelt. Immer ist sie mittendrin, aber nie dominant. Sie brilliert im Jazztanzkreis, ist bildhübsch, wird von vielen bewundert. Als Schülerin ist sie zielstrebig, aber keine Streberin. "Stark" ist der Begriff, der am häufigsten fällt, wenn die Menschen sich an Leila erinnern. Wer Sorgen hat, sucht Rat bei ihr. Leila und Johanna sind Teil einer achtköpfigen Mädchenclique, die gemeinsam abhängt, Kochabende veranstaltet und shoppen geht. Sorglos wirkt diese Schulzeit im Rückblick, mit Klassenreisen nach Sylt und ins nordrhein-westfälische Bad Honnef.

2001 sind die Anschläge des 11. September ein großes Thema an der Schule. Es gibt kollektive Schweigeminuten und ein Kondolenzbuch, in das auch Leila ihren Namen schreibt. "All diese Männer waren Gotteskrieger", heißt es Jahre später in einer der Videobotschaften ihres Freundes über die Flugzeugattentäter. "Möge Allah mit ihnen barmherzig sein."

So souverän Leila in ihrem Freundeskreis auch auftritt, in ihren Partnerschaften ist sie es nicht. Immer ist es Leila, die verlassen wird. Obwohl es für Leila keinen Grund gegeben habe, sich unterlegen zu fühlen, habe sie sich in allen Dingen nach ihm gerichtet, sagt ihr erster Freund rückblickend. "Es gab wenig Impulse von ihrer Seite."

Eigentlich hätten sie angenommen, dass Leila sich nach kurzer Zeit mit Shahab unterfordert fühlen würde, sagen ihre Freundinnen. Ein lieber Kerl, zweifellos, aber Leila, was Ehrgeiz und Intelligenz angehe, deutlich unterlegen. Trotz des offenkundigen Ungleichgewichts lässt sich die Beziehung zwischen Shahab und Leila gut an. Beide wirken glücklich, gehen bald in der Familie des anderen ein und aus.

Lediglich dass Shahab hochgradig eifersüchtig ist, fällt den Freundinnen bald auf. "Er mochte es nicht, wenn Leila die Blicke anderer Männer auf sich zog." Irgendwann ärgert es ihn, dass Leila überhaupt ausgeht - und Leila lässt es. Selbst mit ihren Freundinnen will sie sich irgendwann nur noch nachmittags treffen und an Orten, an denen kein Alkohol ausgeschenkt wird.

"Begünstigt wurde die Entfremdung durch den Schulwechsel", sagt Johanna. Seit der siebten Klasse träumt Leila davon, Zahnärztin zu werden. Ihre Wunsch-Leistungskurse, Chemie und Mathematik, werden an ihrem Gymnasium als Kombination nicht angeboten. Gemeinsam mit einer der acht Freundinnen meldet Leila sich an einer Schule auf der anderen Alsterseite an. Die Übrigen sieht sie fortan immer seltener, und auch von der Klassenkameradin zieht sie sich mehr und mehr zurück.

Haben sie nicht versucht, Leila zur Rede zu stellen? "O ja", sagt Johanna, "anfangs haben wir das." Aber Leila habe reagiert wie eine Magersüchtige, die man auf ihre Krankheit anspricht: Entrüstet war sie, beleidigt. Sie teile Shahabs Ansichten, sagt sie und straft alle ab, die Kritik äußern - sie reagiert nicht mehr auf SMS und Anrufe.

Einmal besucht Johanna Leila im Laden ihrer Mutter, einer kleinen Boutique im Quartier. Ganz in Schwarz gekleidet sitzt Leila hinter der Kasse, behandelt Johanna höflich, doch wie eine Fremde. "Das war ungeheuer verletzend", sagt Johanna. Und sie zieht ihre Strickjacke enger um den Körper, als sei ihr plötzlich kalt. Natürlich bemerken auch Leilas Eltern die Veränderung. Immer wieder suchen sie das Gespräch mit der Tochter. Die Freundinnen mögen Leilas Eltern, manchmal vertrauen sie sich der offenen, stets mitfühlenden Frau Bah an, wenn sie ein Thema zu Hause nicht anzusprechen wagen. Zu Leila aber dringen die Worte ihrer Mutter nicht mehr durch.

2007 nimmt Leila den islamischen Glauben an. 2008 heiratet sie Shahab nach islamischem Recht. Wenn Leila das Haus verlässt, trägt sie neuerdings Kopftuch und ein schwarzes Gewand über der Kleidung. Im Frühjahr 2009, Leila studiert Zahnmedizin und steht kurz vor dem Physikum, sagt sie ihren Eltern, sie wolle in den Semesterferien mit Shahab nach Mekka pilgern. Es ist das letzte Mal, dass die Bahs ihre Tochter sehen.

Hin und wieder, in großen Abständen, meldet sich Leila bei ihrer Familie. Sie klagt nicht in diesen knappen E-Mails, sie schreibt, dass sie bleiben will, wo sie ist. Sicherheitsexperten glauben nicht, dass Leila diese Nachrichten aus freien Stücken verfasst. Eine Frau dürfe sich in diesen Kreisen nicht alleine bewegen, etwa in ein Internetcafé gehen, sagen sie. Und wenn ein Mann ihr einen Internetzugang verschaffe, kontrolliere er bestimmt, was sie schreibe.

Was wissen die Sicherheitsbehörden noch über Leilas Verbleib? Lange ging man davon aus, dass sie das eigentliche Ziel der Reise nicht kannte. Dann fanden die Ermittler heraus, dass Leila vor der Abreise ihr Sparkonto leer räumte, Schmuck und Kleidung verkaufte. Vermutlich wusste Leila also, dass ihr Mann nicht vorhatte, nach Deutschland zurückzukehren.

Am 4. Oktober 2010, so meldete die pakistanische Polizei, wurde Shahab D. beim Angriff einer US-Drohne getötet. Ehemalige Campbewohner haben berichtet, dass Leila schwanger war, als Shahab starb. Inzwischen soll sie in den Bergen einen Sohn zur Welt gebracht haben und umgehend nach dem Tod ihres Mannes wiederverheiratet worden sein. "Der Frau Bah wird es nach allem, was wir wissen, nicht gut gehen."

"Das Schlimmste ist die Ungewissheit", sagt Leilas Mutter. Sie hätten dranbleiben müssen, sie alle, anstatt sich gekränkt zurückzuziehen, sagt Johanna. Jedes Mal, wenn es heißt, es habe einen erneuten Drohnenangriff auf Waziristan gegeben, fängt Johannas Herz an zu rasen. So wie jüngst am 22. April, als die Amerikaner mehr als 20 Tote meldeten. Sie sind noch nicht identifiziert. Darunter sollen auch drei Frauen und Kinder gewesen sein.

* Die Namen von Leila und Johanna wurden geändert.