EU-Gerichtshof setzt Hamburg unter Druck. 16 Schwerverbrecher, darunter 14 Gewalttäter, stehen vor der Entlassung

Dem rechtspolitischen Sprecher der GAL-Bürgerschaftsfraktion, Farid Müller, schwant Böses: "Da kommt ein Problem auf uns zu!"

Das "Problem" sind 16 Straftäter, die in Fuhlsbüttel und in der sozialtherapeutischen Anstalt in Ochsenzoll einsitzen. Mehrfach rückfällige Schwerkriminelle, die ihre Strafen verbüßt haben. Räuber, Vergewaltiger, Totschläger, Betrüger, Brandstifter. So gefährlich, dass die Gerichte eine Sicherungsverwahrung angeordnet hatten. Bis vor Kurzem hatten die Straftäter kaum noch eine Chance, sie waren auf unbestimmte Zeit weggesperrt - der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ihnen nun eine Perspektive zurückgegeben. Das Urteil ist rechtskräftig.

Die 16 Schwerverbrecher sollen bis 2018 in die Freiheit entlassen werden. Schon bald wird die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts den ersten Fall entscheiden, zwei weitere Beschlüsse folgen bis Jahresende.

Mit dem Urteil hat sich der Europäische Gerichtshof sogar über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die rückwirkende Verschärfung der Bestimmung 2004 für rechtens erklärt hatte, hinweggesetzt. Was der Gerichtshof entscheide, sei auch für Deutschland verpflichtend, sagt Strafrechtsprofessor Bernd-Rüdeger Sonnen. Die Staatsanwaltschaft könnte zwar die Freilassungen der Risikostraftäter verzögern, indem sie Beschwerde einlegt oder die Beschlüsse der Kammer mit Rechtsmitteln torpediert. Bis hoch zum Bundesverfassungsgericht ließe sich so die ganze Angelegenheit theoretisch schaukeln. "Doch eigentlich", sagt Sonnen, "wird Hamburg die Straftäter freilassen müssen."

Das Problem betrifft nicht nur Hamburg. Deutschlandweit befinden sich nach Angaben des Europäischen Gerichtshofs von den rund 500 Sicherungsverwahrten 70 Häftlinge in einer ähnlichen Situation wie der Sicherungsverwahrte, der Klage eingelegt hatte, Reinhard M., 52. Drei Risikostraftäter, die dauerhaft in der JVA Lübeck untergebracht sind, könnten ebenfalls noch in diesem Jahr ihre Entlassung beantragen. Schleswig-Holsteins Justizminister Emil Schmalfuß (parteilos) betonte indes, dass die Sicherheit der Bevölkerung absoluten Vorrang habe.

Der EGMR hatte zudem beanstandet, dass der Kläger im Vollzug behandelt worden sei wie ein gewöhnlicher Strafgefangener. In Hamburg indes seien die Sicherungsverwahrten in gesonderten Bereichen untergebracht, sie verfügen über größere Zellen, haben mehr Therapiemöglichkeiten, teilte die Justizbehörde mit. Ob die Sicherungsverwahrung in Hamburg neu organisiert werde, um sich deutlicher von der Strafhaft abzusetzen, sei unklar, hieß es aus der Behörde mit Verweis auf die "frische Entscheidung". "Wir wollen die Gefahr, die von Risikostraftätern ausgeht, so weit wie möglich verringern", sagt Justizsenator Till Steffen (GAL). "Mit unserem Konzept der täterorientierten Prävention 'TOP individuell' und der Zusammenarbeit mit Spezialisten aus dem UKE bieten wir ein breites Angebot an Maßnahmen mit dem Ziel, weitere Straftaten zu verhindern."

Der rechtspolitischen Sprecherin der CDU, Viviane Spethmann, geht das noch nicht weit genug. Um weitere Straftaten zu verhindern, müssten alle Daten über die Schwerverbrecher nach ihrer Entlassung zentral erfasst werden. In der ursprünglichen Fassung des "TOP"-Programms war so eine Datenbank auf Wunsch der Innenbehörde und der Polizei auch vorgesehen, stieß jedoch auf Widerstand bei den Grünen. "Wenn sich beispielsweise ein Kinderschänder um eine sensible Arbeitsstelle bewirbt", sagt Spethmann, "dann wollen wir das auch wissen."

Für Unruhe und Unverständnis werde das Urteil in der Bevölkerung ohnehin sorgen, sagt SPD-Innenexperte Andreas Dressel - gerade weil die Gefährlichkeit der Täter unstrittig sei. Umso wichtiger sei es, von vornherein Gesetze zu schaffen, die Bestand haben, damit Opfer nicht unnötige Ängste durchleiden müssten, sagt Kristina Erichsen-Kruse vom Weißen Ring. Ähnlich sieht das auch Uwe Koßel, Landeschef der Polizeigewerkschaft GdP. "Es wird wieder mehr Arbeit für die Polizei geben", sagt Koßel. "Aber wir arbeiten schon an der absoluten Schmerzgrenze, wie sollen wir da einen Vergewaltiger rund um die Uhr bewachen?"