In den Unterlagen über den 16 Jahre alten Täter taucht das Wort “Körperverletzung“ oft auf. Zu einer Verurteilung kam es aber nicht

Fünf Tage Sozialeinsatz - das ist die einzige spürbare Strafe, die Messerstecher Elias A. in seiner bisherigen kriminellen Laufbahn zuteil wurde. Der 16-Jährige, der am vergangenen Freitag am Bahnhof Jungfernstieg Mel D., 19, erstach, hat eine umfangreiche Akte bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Als Kind, mit gerade einmal zehn Jahren, verletzte er ein anderes Kind mit einem Gegenstand. Er erhielt eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. In den darauf folgenden Jahren beging er immer wieder Straftaten, die sich in Intensität und Aggressionspotenzial steigerten - bis er einen Menschen tötete. Seit gestern sitzt er im Gefängnis. Ein Richter erließ Haftbefehl.

Obwohl die Akte des Elias A. bei den Strafverfolgungsbehörden durchaus umfangreich ist: Das Spektrum der Tatvorwürfe ist klein. Immer geht es um Gewalt, um Dein und Mein, um das Demonstrieren von Stärke. Selten beging der Junge vom Großneumarkt die Taten allein. Meist waren Freunde dabei. Mindestens einmal zuvor auch Kai W., 18, Sebastian S., 17 und Kamil K., 17, die ihn begleiteten, als er den Altonaer Schüler erstach, der sich gemeinsam mit einem Freund auf eine Bank im Bahnhof gesetzt hatte. Die beiden wollten auf den Zug nach Wedel warten, der sie in die Disco hätte bringen sollen.

Fünf Taten beging Elias A. noch als strafunmündiges Kind, das heißt vor seinem 14. Geburtstag. Fast immer ging es um Prügeleien. "Körperverletzung" ist ein Wort, das häufig zu lesen ist in der Akte Elias A. Details über diese Taten hielten die Behörden gestern weitgehend unter Verschluss - auch aus Gründen des Sozialdatenschutzes.

Am 18. Februar 2008 wurde Elias A. strafmündig. Im selben Jahr gesellten sich drei neue Straftaten zu den bisher dokumentierten. In den Akteneinträgen geht es um Körperverletzung, Beleidigung und eine Falschaussage. Das Verfahren wegen Körperverletzung (er soll am Haus der Jugend am Stintfang einen Jugendlichen verletzt haben) wurde am 16. Juli von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Nach Abendblatt-Informationen ließ sich der Tatverdacht nicht ausreichend belegen.

Für die Beleidigung erhielt der junge Delinquent am 9. Juli eine Verwarnung bei gleichzeitiger Verfahrenseinstellung. Eine angebliche Falschaussage aus dem April 2008 ließ sich im Laufe der Ermittlungen nicht nachweisen. Der Fall wanderte am 1. September als eingestellt zur Akte.

Auch im Jahr 2009 geriet Elias A. mehrfach mit Polizei und Staatsanwaltschaft in Konflikt. Im März schlug Elias A. einen Referendar der Schule Arnkielstraße blutig, als der einen Streit schlichten wollte, den der damals 15-Jährige mit einem dortigen Schüler hatte. Zwei Monate später, am 14. Mai des Jahres, war die Anklage fertig. Mitte September stellte das Gericht das Verfahren gegen die Erteilung einer Arbeitsauflage ein. Elias A. absolvierte die beschlossenen fünf Sozialtage. Gerichtssprecher Conrad Müller-Horn: "Der Anklagevorwurf einer gezielten, gewollten Körperverletzung hatte sich in der Beweisaufnahme nicht voll bestätigt. Der Fall ist mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft eingestellt worden."

Im September 2009, also mit der Anklage wegen der Körperverletzung aus dem Monat zuvor, hatte auch das zuständige Jugendamt Mitte die Betreuungsakten an die Sozialbehörde übergeben.

Damit war nun das Familieninterventionsteam (FIT) für Elias A. zuständig. Das FIT ist für die Betreuung von minderjährigen Intensivtätern zuständig. Es soll Familien bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützen. Dabei richten sich die Maßnahmen auf Eltern und Kinder. Betreuer sind im regelmäßigen Kontakt mit den Jugendlichen. Es werden zusätzlich Hilfepläne für die Familien erstellt. So können etwa Anti-Aggressionstrainings angeordnet werden. Welche Maßnahmen allerdings im Fall von Elias A. getroffen worden sind, darüber gibt die Sozialbehörde keine Auskunft. "Bei Sozialdaten dürfen wir das auch nicht", sagt Behördensprecherin Julia Seifert. Ebenso sind die Maßnahmen des Jugendamts Mitte bis zu der Übergabe an das FIT nicht bekannt.

Am 8. August beging der Junge dann offenbar eine Tat, die stark an jene erinnert, die für Mel D. tödlich endete. Gemeinsam mit seinen Freunden Kai W., Kamil K. und Sebastian S. schnorrte Elias ihm unbekannte Personen am Enckeplatz nach einer Zigarette an. Die Angesprochenen verneinten, die Gruppe ging zunächst weg, kam dann zurück und forderte unter Gewaltandrohung vergeblich Geld. Die Opfer gingen zur Polizei, die die Täter schnell ermittelte. Am 30. September 2009 sandte die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen versuchter gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung an das zuständige Jugendgericht. Der Fall ist noch nicht terminiert.

Am 14. Oktober lauerte Elias A. dem Leiter des Penny-Marktes an der Straße Thielbek (Neustadt) auf. Zusammen mit seinem Bruder Rafael wollte er sich an dem Mann rächen, weil der ihm Hausverbot erteilt hatte. Elias A. hatte im Laden diverse Brötchen angefasst, sie dann wieder zurückgelegt. Er schlug den Supermarkt-Chef zusammen. Auch dieser Fall wurde zur Anzeige gebracht. "Absolut zeitnah und beschleunigt", wie Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers betont. Tatsächlich war die Anklage innerhalb zweier Wochen fertig.

Das Gericht zog die beiden letztgenannten Fälle nach Eingang der zweiten Anklage zu einem Sammelfall zusammen und bestellte fünf Pflichtverteidiger für die Angeklagten. Sie bekamen Akteneinsicht und Zeit für Stellungnahmen. Diese Frist endete im April 2010. Bereits im Januar beschloss die Staatsanwaltschaft, Elias A. in die Protäkt-Intensivtäter-Datei aufzunehmen. Begründung: Die sich offenbar steigernde Gewaltbereitschaft des jungen Hauptschulabsolventen lasse die Prognose zu, dass er auch zukünftig zu schwereren Gewalttaten neigen werde. Eine im Rückblick auf traurige Art wahr gewordene Vorhersage.

Welche Art Hilfestellung die Eltern bei der Erziehung ihrer drei Söhne auch immer in Anspruch genommen haben - es war offenbar nicht genug. Denn nicht nur Elias A., sondern auch seine beiden Brüder sind bereits mehrfach polizeilich aufgefallen. Auch bei ihnen geht es meist um Körperverletzungen und Diebstähle. Unter anderem sollen alle Brüder gemeinsam einen Mann verprügelt haben, der sich bei den Eltern über das Verhalten ihrer Zöglinge hatte beschweren wollen. Für diese Tat bekam zumindest der Älteste Jugendarrest.