Märchen können vor allem Erwachsenen viel beibringen, erklärt die Literatur-Dozentin

Märchen erzählen Geschichten über Kinder für Erwachsene. "Erzähl keine Märchen" heißt für uns: "Lüg nicht", denn wir verstehen Märchen als unglaubhafte Wundergeschichten für Kinder. Für die Grimms vor 200 Jahren allerdings waren Märchen poetische Volksliteratur, die sie hoch schätzten. Sie sammelten Märchen zunächst auch für Erwachsene. Ich lese Märchen wieder als Geschichten für Erwachsene. Sie zeugen von hoher Ethik, da sie aufseiten Schwacher, Hilfloser, Verletzter stehen, meist Kinder. Märchen geben uns wahrheitsgetreue Einblicke in vergangene Zeiten unserer Kultur, von daher auch die Grausamkeiten, die Märchen anprangern. Wenn wir Märchen wieder in diesem Sinn ernst nehmen, helfen sie uns zu verstehen, woher wir kommen und wo wir heute stehen - vor allem in unserem Umgang mit dem Kind.

Wie Mythen transportieren Märchen klare Botschaften über Gut und Böse. Wie Mythen sind sie Göttergeschichten, denn in Märchenfiguren wie Nixen, Zwergen oder Frau Holle verstecken sich alte Gottheiten. Wir wissen das nicht mehr, aber unsere Vorfahren wussten das noch. Das Wort "Märchen" stammt vom älteren Wort "maere", und das bedeutete: Kunde, Erzählung, Bericht. In Märchen steckt nicht nur Wissen um Kulte und Riten, sondern sie berichten vom Umgang Erwachsener mit Kindern. In vielen Märchen müssen Kinder fort von ihren schlechten Eltern. Kinder verfügen über außergewöhnliche Stärken, trotzdem sind sie abhängig von den Menschen, die sie hegen und pflegen: Das ist Kindheit. Kinder benötigen, um gut heranzuwachsen und später Verantwortung übernehmen zu können, verantwortungsbewusste Erwachsene. Ein Beispiel so einer Erwachsenen ist Frau Holle. In ihr versteckt sich die germanische Muttergöttin Holle, Hulda oder Hel.

In "Frau Holle" muss ein Mädchen für seine Stiefmutter tagtäglich am öffentlichen Brunnen "so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang". Eines Tages fällt ihm die Spule in den Brunnen, als das Mädchen sie von seinem Blut reinigen will. Die Stiefmutter befiehlt ihm, hinterherzuspringen, um die Spule wiederzuholen. Eigentlich springt das Mädchen wie in den sicheren Tod, aber es landet auf einer Blumenwiese: Das ist hier das Wunder. Schauen wir einmal auf das, was dann geschieht: Das verängstigte, ausgemergelte Kind kommt zu Frau Holle. Die bricht nicht in Tränen des Mitleids aus, beginnt nicht, das Kind zu bemuttern. Stattdessen bietet sie ihm einen Handel an: "Wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll dirs gut gehn." Das Kind bekommt nichts geschenkt, aber einen geregelten Tagesplan. Holle sorgt für Unterkunft und nahrhaftes Essen. Das Mädchen lernt, mit seinen Kräften gut umzugehen, sich nicht mehr bis aufs Blut zu schinden. Es lernt, was es bedeutet, gerecht behandelt zu werden. Holle lässt das Mädchen wieder gehen, als es darum bittet. Holle wird nicht sagen: "Du willst zurück zu deiner entsetzlichen Stiefmutter? Bleib lieber bei mir, hier hast du es besser." Holle würdigt das Mädchen von Anfang an und wird es beim Abschied mit Gold beschenken. Sie fordert und fördert seine Stärken, ohne es auszubeuten. Sie ist liebevolle Erzieherin und Partnerin eines verletzten Kindes. Auch dies ist eine Geschichte, die uns Erwachsene angeht, weil wir davon lernen sollen für unseren Umgang mit Kindern.

Was Märchen uns sagen wollen:

Aschenputtel: Wie kann ein Mädchen nach dem Tod der Mutter überleben, wenn der Vater es nicht wahrnimmt, die Stiefmutter es quält? Das Mädchen schafft es dank des innigen, stärkenden Verhältnisses zur Mutter über deren Tod hinaus - dafür stehen die Tauben, die als Seelen- und Todesvogel galten.

Rapunzel: Wie kann sich ein Mädchen befreien, das von den Eltern schon vor der Geburt verscherbelt wurde und von daher unter dem Verdikt leidet, nicht gewollt zu sein - es sei denn, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen?

Der Eisenhans: Wie kann ein Junge Vertrauen lernen, dessen Eltern ihn nicht gut hüten und dessen Vater verantwortungslos handelt? Es geht um die erstaunliche Freundschaft eines verstörten Jungen und eines verstörten Mannes.

Schneewittchen: Wie lernt ein schönes Kind, dem mütterlichen Schönheitswahn zu entkommen? Es geht um den Blick unter die Oberflächen.

Allerleirauh: Ein Mädchen soll dem Vater als Ersatz der verstorbenen Mutter dienen. Wie kommt Allerleirauh aus einem erlernten unheilvollen Rollenspiel heraus?