Literaturwissenschaftlerin Kirsten Boie erklärt, warum Bücher so wichtig sind

Lange bevor sie Bücher kennenlernen, kommen Kinder heute mit anderen Medien in Berührung. Mit dem Fernseher entdecken schon ganz kleine Kinder die Möglichkeit, in Alternativwelten abzutauchen - zu gucken, statt selber zu erleben. Sie erfahren gar nicht, dass eine Geschichte allein aus Wörtern im Kopf entstehen kann. Und das ist ja das Schöne am Lesen: Indem die Leser ihre eigenen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle einsetzen, werden die Geschichten, Menschen und Bilder im Kopf lebendig.

Außerdem lerne ich beim Lesen Menschen von innen kennen, denn Texte können mir die Gefühle und Gedanken der handelnden Personen offenbaren. Damit fördert Lesen das Einfühlungsvermögen. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass Gedanken, die man vielleicht schon mal unscharf gefühlt oder erlebt hat, in Worte gefasst werden. Was ich auf den Begriff bringen kann, damit kann ich mich plötzlich auch bewusst auseinandersetzen.

Viele Kinder lernen Bücher leider erst in der Schule als anstrengenden Gegenstand kennen. Damit sie erfahren, dass ein Buch auch Spaß macht, sollten sie früh mit ihm in Kontakt kommen. Die Kleinsten probieren ein Buch vielleicht zunächst als Beiß- und Schmeißding aus, aber allmählich begreifen sie, dass es auch ein Anguck-, Zuhör- und Darüber-Rede-Ding ist. Ich habe mit fünf Jahren angefangen zu lesen, damals gab es kein Fernsehen, nur sonntags eine Stunde Kinderfunk. Bücher waren da etwas unglaublich Tolles. Meine Lieblingsautorin war Astrid Lindgren, deren Bücher kannte ich fast auswendig. Mit zehn wollte ich es aufregender haben und habe mehr oder weniger den ganzen Karl May verschlungen. Außerdem habe ich Berge aus der Bücherhalle ausgeliehen, weil meine Eltern nicht das Geld hatten, mir viele Bücher zu kaufen. So weiß ich, wie wichtig öffentliche Büchereien sind.

Oft fragen mich Eltern, was Kinder lesen sollten. Ich meine, was Kinder gerne lesen, müssen Erwachsene nicht mögen. Weil wir nicht in ihre Köpfe gucken können, erfahren wir nicht, was sie an einem Buch fasziniert. Vielleicht hilft es ihnen mit einem Erlebnis umzugehen, von dem wir gar nichts wissen? Vielleicht befriedigt es eine Sehnsucht? Jedes Kind hat seinen eigenen Buchgeschmack, und der wandelt sich mit der Zeit. Jungs sind offenbar mehr an Sachthemen interessiert als Mädchen. Aber das muss nicht so sein. Niemals sollten sie die Lektüre eines Kindes abwerten. Fast jeder, der gern liest, hat als Kind Bücher geliebt, bei denen es ihn heute schüttelt. Was uns als Klischee erscheint, begegnet dem Kind vielleicht zum ersten Mal. Lassen wir die Kinder das lesen, was ihnen gefällt. Dann lesen sie später auch andere Bücher."

Kirsten Boie ist Literaturwissenschaftlerin und Autorin zahlreicher Kinderbücher.