Weiblich, erfolgreich und voller Widersprüche. Deutschlands neue Elite hat ausländische Wurzeln, ist gebildet und religiös liberal.

Hamburg. Nazan Eckes fährt Porsche. Einen 911. Das wissen RTL-Zuschauer, seit ein Kollege die "Exclusiv"- und "Let's dance"-Moderatorin beim Goldenen Lenkrad 2009 interviewte und sie den neuen Porsche Panamera testete. "Doch, das Fahrgefühl macht mir einfach Spaß", sagt die 34-Jährige da ganz cool, während sie beschleunigt. Nur das Image sei schlecht: "Alle hassen Porschefahrer. Keiner lässt einen durch, alles hupt."

Wer jetzt denkt, dass Nazan Eckes einfach nur eine telegene Porschefahrerin ist, viele Haare hat und damit dem Klischee einer Privatsender-Moderatorin ziemlich entspricht, der irrt. Die Tochter eines Chemiearbeiters aus der Nordwesttürkei, in Köln geboren, machte in Leverkusen Abitur und hätte als Schülerin nie geglaubt, dass sie es mal ins Fernsehen schaffen würde. Sie kam aus einfachen Verhältnissen, das Showgeschäft war für sie und ihre Familie nicht im Mindesten real, noch eine Möglichkeit. Trotzdem bewarb sie sich bei dem Musiksender Viva um ein Volontariat und bekam es. Mit Fleiß, Flexibilität und Witz schaffte sie es bis zur Moderatorin. Brüche in der Vita inbegriffen: Von ihrem Mann ließ sie sich 2007 scheiden. Und in diesem Geschäft, sagt sie, "ist man schneller weg vom Fenster, als man für möglich hält".

Nazan Eckes ist nicht die einzige Migrantin mit Kampfgeist. Eine andere, die Hamburgerin Aygül Özkan, ist gerade Ministerin geworden. In NordrheinWestfalen will die SPD schon die nächste Kandidatin einsetzen: Zülfiye Kaykin. "Natürlich freue ich mich über diese Entwicklung", sagt Eckes. "Grundsätzlich beeindrucken mich Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Gerade türkische Frauen müssen gegen größere Widerstände kämpfen. Da zählt der Erfolg einer Aygül Özkan doppelt."

Sie sind Moderatorinnen, Anwältinnen, Wissenschaftlerinnen, Comedians, selbstständige Unternehmerinnen, sie melden sich aus allen Parteien zu Wort: Es gibt inzwischen viele Frauen mit Migrationshintergrund , die es nach oben geschafft haben. Und die dieses Wort am liebsten auf den Mond schießen würden, weil es so nach Defizit oder Förderprogramm riecht.

Als Wegbereiterinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates mit ihren mutigen Erfahrungsberichten zur Emanzipation aufriefen, hieß es in vielen Bereichen noch: Quoten-Migrantin verzweifelt gesucht. Heute kann über der Migrantenelite der Slogan stehen: "Jung, muslimisch, überwiegend weiblich".

Frauen wie Aygün Özkan , die Schauspielerin Sibel Kekilli , die Unternehmerin Nina Öger stellen sich nicht nur deutschen Maßstäben, sie formulieren auch selber Ansprüche - an die Politik, die Gesellschaft, an die eigene Community, an die Medien. Sie prüfen, ob Deutschland es mit der Gleichbehandlung ernst meint. Was die Aufsteigerinnen nervt, sind zwei Dinge: ihr Sonderstatus als "Vorzeigemigrantin". Und die ewigen Symboldebatten über Kopftücher und Kruzifixe.

Hilal Sezgin, geboren 1970 in Frankfurt/Main, ist Autorin, Radiokommentatorin und eine der neuen Wortführerinnen im deutsch-türkischen Dialog. Sie schreibt für die "Zeit" und die "taz" über Gesellschaftsthemen, über Konsum, Filme, Tierethik. Die Heldin ihres neuen Romans "Mihriban pfeift auf Gott" hat so deutsche Gewohnheiten und Ansichten wie die Moderatorin Sarah Kuttner. "Aber gefragt werde ich dauernd zum Kopftuch", sagt Sezgin. Montags eine Diskussion mit Kinozuschauern zu dem neuen Film "Die Fremde" - über einen Ehrenmord. Dienstags ein Interview über "Muslime und das Kruzifix". Da soll man nicht ungeduldig werden. War eigentlich sonst nichts los?

"Dass es jetzt in Deutschland eine türkische Akademikerschicht gibt, erzeugt offenbar Verunsicherung", sagt Sezgin. "Es ist eigenartig, dass man sich am 'Kampf der Kulturen' hier so festhält. So als gäbe es zwischen Deutschen und Migranten eine kulturelle Unverträglichkeit."

Junge Türkinnen erscheinen in der öffentlichen Wahrnehmung entweder als eingeschüchterte Kopftuchmädchen, die die Buchhaltung für Onkel Yildirims Fahrschule machen, oder als aufgedonnerte Lolitas. Niemand hat die Klischees so genüsslich auf die Spitze getrieben wie Lady Bitch Ray, Deutschlands provokanteste Rapperin, Trash-Feministin und Albtraum jeder Talkshow - wie auch Sandra Maischberger erfahren durfte. Bürgerlich heißt sie Reyhan Sagin, wurde 1980 in Bremen geboren und promoviert in Linguistik - über die Symbolsprache der Jugendsubkultur.

Ganz anders sieht der Aufstieg von Özlem Demirbaga aus: Die 35-Jährige, die vor zehn Jahren nach Deutschland kam, hat in Hamburg-Billstedt ihren eigenen multikulturellen Kindergarten eröffnet. "Das war immer mein Traum", sagt die studierte Pädagogin, "wir haben 45 Kinder aus 19 Nationen." In ihren Traum hat die Existenzgründerin 100 000 Euro investiert.

Der Soundtrack der Aufsteigerinnen ist vielstimmig. Mal klingt er schrill wie Reyhan Sahin, mal sanft wie ein Song der Rapperin Sabrina Setlur. Mal wie eine Bundestagsrede der SPD-Politikerin Lale Akgün. Und manchmal nach Wortfetzen aus dem Hanseatischen Oberlandesgericht.

Als Gül Pinar im Al-Qaida-Prozess 2003 den Marokkaner Abdelghani Mzoudi verteidigte, schaute ganz Deutschland auf die junge Hamburger Strafverteidigerin. (Mzoudi wurde beschuldigt, die Attentate des 11. September 2001 vorbereitet zu haben.) Eine unverschleierte Frau, die einen Islamisten vertritt? 2006 legte sie sich in der "CIA-Affäre" auch mit dem BND an.

Mit dem Islam beschäftigte sie sich erst, als sie Mzoudi verteidigte: "Ich komme aus einer eher ungläubigen Familie." Sie wurde 1968 in Istanbul geboren, besuchte dort eine französische Schule und sprach Türkisch, Englisch und Französisch, als die Familie 1982 ins norddeutsche Bargteheide zog.

"Ich kam ohne ein Wort Deutsch in die 9. Klasse und wurde versetzt", erzählt sie. "Ich finde, Aygül Özkan hat eine andere Anerkennung verdient als ich. Sie hatte als Kind von Arbeitsemigranten andere Startbedingungen. In meiner Familie sind die Frauen seit vier Generationen Akademikerinnen."

Die Aufsteigerinnen der zweiten und dritten Einwanderergeneration betrachten ihre Herkunft nicht als Makel, sondern im Gegenteil: Sie sind stolz auf ihre Binationalität und ihre Mehrsprachigkeit. Ihr Selbstbewusstsein beziehen sie gerade aus ihrer "lebensgeschichtlichen Inspiration" und ihren Erfahrungen in verschiedenen kulturellen Räumen, stellt eine Studie des Heidelberger Instituts "Sinus Sociovision" 2008 über die verschiedenen Migrantenmilieus fest.

Die konservativ-frommen muslimischen Milieus bieten Frauen noch wenig Möglichkeiten. Nachwuchs für die Elite sieht die Studie vor allem in dem "intellektuell-politischen Milieu" des global orientierten Bildungsbürgertums, zu dem etwa elf Prozent aller Migranten gehören, und in dem "multikulturellen Performermilieu" mit 13 Prozent, das bikulturell, westlich und erfolgsorientiert eingestellt ist.

Bilkay Öney war allerdings weit davon entfernt, als sie 1970 bei einer Hausgeburt in Ostanatolien zur Welt kam. 1973 kam sie zu ihren Eltern nach Berlin, die als Lehrer in Ausgleichsklassen für Gastarbeiterkinder unterrichteten. Sie wuchs in Spandau auf, ging zu den Pfadfindern, guckte "Sesamstraße". Nach dem BWL-Studium begann sie beim türkischen Sender TRT, der gerade in Berlin sein Auslandsstudio aufbaute. Heute sitzt sie für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus.

Sie hat selber Reportagen über Migrantenaufsteiger gemacht. "Und ich habe festgestellt: Bei allen erfolgreichen Türkinnen und Türken gab es deutsche Lehrerinnen, Freunde oder Nachbarn, die als Bezugspersonen besonders gefördert und Vertrauen gestiftet haben", sagt sie. "Wenn man zusammen feiert, redet, weint und lacht, dann gibt es ja keinen Grund, in eine Parallelgesellschaft auszuweichen. Viele Kinder bekommen solche Zuwendung leider nicht auf ihrem Weg, auch nicht alle deutschen." Für Öney sind erfolgreiche Migrantinnen ein wichtiges "role model" - "Elitenbildung ist normal, wir brauchen sie". Hoch qualifizierte Migranten erweisen sich in Deutschland als ebenso unverzichtbar wie in Frankreich oder England: Mit Insiderblick und ohne Sprachbarrieren erkennen sie oft genauer, wo Integrationshemmnisse sind. Linguistinnen entwickeln Sprachförderprogramme für Einwandererkinder, türkische Wirtschaftsexperten beraten Landsleute, die sich selbstständig machen. Darunter seien zunehmend Frauen, sagt der Hamburger Existenzberater Mehmet Keskin.

Der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Dr. Ahmet Toprak hat gerade in seiner Studie "Unintegrationswillige Muslime? Ein Milieubericht" (Lambertus Verlag) zahlreiche Interviews mit Deutschtürken ausgewertet, unter anderem über ihr Bild in den Medien. Was erfolgreiche Migranten, Männer wie Frauen, stört: dass sie da als Typus praktisch nicht vorkommen.

Die deutschtürkische Mittelschicht betrachte die Vorgänge in Deutschland gar nicht prinzipiell anders als die Deutschen selbst, meint die Politikerin Bilkay Öney. "Wir diskutieren über die Schulden von Griechenland und über Sinn oder Unsinn von Privatschulen. Bei Migrantenpolitikern gibt es genau so viel Konkurrenz oder Betriebsblindheit wie unter deutschen."

Der Politikwissenschaftler Norbert Walter vergleicht die Aufsteigermentalität der Migranten mit der in der deutschen Nachkriegsphase. Mehr als zwei Drittel von ihnen seien keine Aufstiegsskeptiker, wie es heute zunehmend im deutschen Mittelstand der Fall ist, sondern Optimisten.

Zu diesen Optimisten gehört auch Nazan Eckes. "Ich bin nie wegen meiner Herkunft benachteiligt worden. Ich muss aber dazu sagen, dass ich immer sehr offen auf die Menschen in meinem Umfeld zugegangen bin", antwortet Eckes, "und ich habe immer Wert darauf gelegt, sprachlich sicher zu sein."

Neben der Politik sollten auch in der Verwaltung mehr Migranten eingesetzt werden, findet die Strafverteidigerin Gül Pinar, "weil man im Alltag dadurch mehr ändern kann". Die Berliner SPD-Abgeordnete Bilkay Öney sagt, das Wichtigste sei Empathie, "die Fähigkeit, sich in andere Gruppen der Gesellschaft hineinzuversetzen". Und das könnten Frauen ziemlich gut.