Es tut sich etwas im Showgeschäft. Und nicht nur dort formiert sich ein Gegentrend hin zu Individualisierung.

Schwer zu sagen, womit es anfing. Vielleicht mit den Prêt-à-porter-Schauen im vergangenen Jahr, als sich die übergewichtige Punksängerin Beth Ditto mit unrasierten Achseln und fröhlich wippendem Hüftspeck in die erste Reihe bei Chanel quetschte. Für gewöhnlich halten hier Überfrauen wie Kate Moss, Claudia Schiffer und "Vogue"-Chefin Anna Wintour ihre Fohlenbeine in die Kameras.

Oder mit den Auftritten des größten weiblichen Popstars dieser Tage, Lady Gaga, die mehr futuristische Kunstperformances sind als Konzerte, die Frau selbst mehr Skulptur als Mensch. Sie robbt über Gummiwale, trägt Astronautenhüte zur Ganzkörperstrumpfhose und zu viel Selbstbräuner. Und alle jubeln ihr zu. Dem Freak.

Vielleicht hat das Umdenken in der Modewelt auch bei der diesjährigen Oscar-Verleihung begonnen, während der sich die schreienden Fotografen am roten Teppich um die 168 Kilogramm schwere Schauspielerin Gabourey Sidibe drängelten, Hauptdarstellerin des US-Erfolgsfilms "Precious" und nominiert als beste Hauptdarstellerin. Zwei Stunden lang stopft sie auf der Leinwand frittierte Hähnchenschenkel in sich hinein; wenn sie geht, reiben die Fettpolster ihrer Knie aneinander. Eine fleischgewordene Antithese zu Hollywoods heiliger Leinwand-Dreifaltigkeit, die da heißt: Wasserstoffblond, Botoxstirn, Size Zero. Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" rief nach Filmstart eine neu entfachte Debatte über Schönheitsideale aus.

Das neue Frauenbild definiert sich über Haltung, nicht über die Kleidergröße

Auf einmal sehen wir an Frauen also Formen und Moden, wie sie lange nur in subkulturellen Nischen und medialen Do-it-yourself-Ablegern ihren Platz hatten. Körper, bei denen die Proportionen aus dem Ruder gelaufen sind, sind mit einem Mal coverfähig. Und haben das Scheinwerferlicht des roten Teppichs erreicht. Die Frauenzeitschrift "Brigitte" lässt die neue Sommermode seit Jahresanfang nicht mehr von professionellen Models vorführen, sondern von Annemarie, Blumenladenbesitzerin aus Berlin-Kreuzberg und Susi, 42, Mutter von drei Kindern. Die Aktion "Ohne Models" prunkt seither als Gütesiegel auf jedem Titelbild wie einst der blaue Engel auf Schulheften, das Biosiegel auf Joghurt. Die Botschaft dahinter: weg von der Austauschbarkeit. Hin zu einem Frauenbild, das sich nicht über die kleinste Kleidergröße definiert. Sondern über Haltung.

Diese Maxime befolgte auch Popstar Britney Spears, als sie sich kürzlich für ein Modemagazin in sexy Posen ablichten ließ - und die unretuschierten Bilder anschließend in der "Daily Mail" veröffentlichen ließ. Im Showgeschäft kommt das in etwa der Provokation gleich, ungewaschen und verkatert zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Anstelle von perfekter Hautstruktur und am Rechner zurechtgetrimmten Kurven blickten die Leser auf Pölsterchen, Rötungen, Dellen. Spears' Aktion war ein Marketinggag in eigener Sache, das auch. Aber vor allem ein Statement: "Ich will Frauen den Druck nehmen, perfekt auszusehen", so die Sängerin.

Makel statt Makellosigkeit - sieht so die Schönheitsformel der Gegenwart aus? Sicher nicht. Aber vielleicht sind jetzt wieder Zeiten angebrochen, in denen der vermeintliche Massengeschmack vor allem eines verbreitet: gähnende Langeweile. Schlauchbootlippen, aufgepumpte, schwerkraftresistente Brüste und Stupsnäschen, wohin man im bunten Blätterwald blickt. Uniformer Victoria-Beckham-Look.

So gesehen ist nur logisch, was sich gerade vor unseren Augen vollzieht: Eine Rückbesinnung auf Individualität. In einer immer unpersönlicher werdenden Welt gewinnen Persönlichkeitsmerkmale zunehmend an Bedeutung - und wenn es ein paar überflüssige Kilos sind. In einer Welt, in der die Globalisierung dazu führt, dass alles gleich aussieht, schmeckt, funktioniert, sehnt man sich nach regionalen Spezialitäten, ungewöhnlichen Lebensentwürfen und extremen Ausdrucksformen. Das gilt für viele Lebensbereiche - Mode, Essen, Wohnen, Kunst -, für keinen jedoch so sehr wie für das äußere Erscheinungsbild. "Brigitte"-Chefredakteur Andreas Lebert spricht von einer "Tendenz, die weggeht von einem genormten Schönheitsbild und hin zu der Auffassung: Attraktivität hat viele Gesichter." Der allgemeine Trend bei den Frauenmagazinen gehe "in Richtung Lebendigkeit und Abwechslung".

Schönheit ist eines der ältesten Themen der denkenden Menschheit. In den letzten zweieinhalbtausend Jahren haben unter anderem Platon, Kant, Schopenhauer, Hegel und Heidegger den Ästhetik-Diskurs befeuert. Schönheit zu entschlüsseln und analysieren, daran arbeiten sich ganze Berufszweige ab: Attraktivitätsforscher, Wissenschaftler, Philosophieprofessoren, Modelscouts. Da werden mathematische Gleichungen bemüht, Evolutionszusammenhänge hergestellt, die ganze Regalmeter an Ratgebern und Überblicksliteratur füllen. Kein Wunder, belegen doch Umfragen und Studien, dass hübsche Kinder in der Schule bevorzugt behandelt werden, schöne Menschen die besseren Jobs bekommen.

"Was ist schön?" fragt momentan das Dresdner Hygiene-Museum in einer Ausstellung - und findet in Gestalt seiner Kuratoren Gisela Staupe und Klaus Vogel die Antwort: "Während eine verbreitete Vorstellung davon ausgeht, dass die Medien ein einheitliches Ideal von Schönheit vorschreiben, kommt die Ausstellung zu einem ganz anderen Schluss: Schönheit wird heute von den meisten Menschen als individuelle Differenz und bunte Vielfalt gelebt und erfahren." Gezeigt werden Statistiken der Kosmetikindustrie und Fotografien von Herlinde Koelbl und Cindy Sherman, die sich selbst als Karikatur der All-American-Housewife ablichtete, geschminkt bis zur Unkenntlichkeit. Wenn es einen Punkt gibt, auf den sich die Ausstellung bringen lässt, dann diesen: Schönheit ist relativ.

Wer will in Krisenzeiten noch mit Perfektion behelligt werden?

Nicht nur in der Kunst, auch in der Modewelt. Nach Jahren von stromlinienförmigen Kleiderständermädchen und homogenisierter Sicht auf Körper singen Modebranche und Popkultur einstimmig ein Loblied auf die Anti-Perfektion. "Wer will in Krisenzeiten noch mit der Perfektion aus den guten Tagen behelligt werden?", fragte Katie Grand, Chefredakteurin des US-Modeheftes "Love" - und meinte schlicht: Es ist an der Zeit, mal wieder über den Rand der Birkin-Bag hinauszuschauen. Sei wie du bist - dieser Satz, der auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten bislang höchstens für Naserümpfen gesorgt hat, wird neuerdings in der Branche wie ein heiliges Mantra gemurmelt. Der Modekritiker der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb in der Hochglanzbeilage der Zeitung: "Das herrschende Schönheitsideal verändert sich. Streichhölzer sind nicht mehr das ästhetische Leitbild. Um aus der Dauerkrise zu kommen, wendet sich die Mode nun langsam der normalen Frau zu."

Man könnte auch sagen: Das Schönheitsideal nähert sich der Realität an. Auf der Suche nach dem Warum reden Soziologen von Emanzipation und Glaubwürdigkeit, Zeitgeist-Experten wiederum glauben, dass in Krisenzeiten nicht nur die Rocksäume kürzer werden, sondern molligere Frauen gefragt sind. Logisch, allzu zarte Pflänzchen knicken so leicht ein wie die Aktienkurse der Großkonzerne und sind alles andere als eine sichere Bank. Also darf's nun gerne wieder etwas mehr sein.

Ist das tatsächlich ein Ausdruck dieser Zeit oder bloß Zufall? Nun, dass auf jeden Trend sein Gegenteil folgt, ist hinlänglich bewiesen. Auf Haute Cuisine folgt Hausmannskost, nach der selbstbewussten Supermodelära der Neunziger von Claudia Schiffer, Cindy Crawford und Linda Evangelista, die bloß fünfstellige Tagesgagen und puren Sex-Appeal kannten, kam die Zeit von Kate Moss und ihren Magermädchen-Freundinnen, die Augenringe schick machten, eingefallene Wangen attraktiv, den Schmuddellook leuchtend. Nun ist vielleicht die Zeit der Mode-Irritatorinnen und der so genannten "authentischen Frauen" angebrochen. Schon klar, eine Gabourey Sidibe, eingenäht in ein theatervorhanggroßes blaues Stoffzelt, macht noch keinen Sieg über das Dünndiktat, eine Beth Ditto noch keine exzentrische Saison, und Hakennasen, Pickel und Fisselhaare wird die "Brigitte" ihrer Käuferschicht weiterhin vorenthalten. Aber die Zeichen einer gelangweilten Branche stehen auf Nachholbedarf.

Weil angeborene Schönheit nun mal kein großzügig verteiltes Gottesgeschenk ist, sind dies, dem technischen und medizinischen Fortschritt sei dank, die Blütejahre der Schönheitsindustrie: Weltweit setzt sie jährlich geschätzte 190 Milliarden Euro um, davon entfallen rund 20 Milliarden auf Schönheitsoperationen - ein florierender Wirtschaftszweig, auch deshalb, weil jede(r) mitmachen kann. Längst hat beim Körpertuning und -optimierungswahn eine finanzielle Demokratisierung stattgefunden: Die Bäckereiverkäuferin kann sich Botox-to-go in der Mittagspause leisten, die Studentin auf eine Nasen- und Brust-OP sparen. Nun muss man kein Experte sein, um zu wissen: Was alle sich leisten können, ist nicht mehr viel wert.

Charaktere sind wieder gefragt, keine Kunstkörper

Das ist beim Aussehen nicht anders als bei Designerware: Wenn Luxusdesigner wie Stella McCartney und Jimmy Choo für H&M entwerfen, trägt die High Society eben wieder Pelz. Für Trittbrettschönheiten gilt das Gleiche: Eine Paris Hilton ist ein Hingucker, der zwölfte, ach was: zwölftausendste blonde Klon nur noch eine billige Kopie. Also sind Charaktere wieder gefragt. Keine Kunstkörper, keine Plastikgesichter.

Was gerade passiert in der Welt der Oberflächen und des schönen Scheins, ist keine Umwälzung, die eine neue Wirklichkeit erschafft. Aber es tut sich etwas in einem Geschäft, das als unerbittlich gilt, konventionell und spaßfrei. Ein Gegentrend formiert sich, der die herkömmliche, gehirnwäschegleiche Medienformel von Attraktivität und Sex ignoriert.

Das neue Schönheitsideal ist so vielfältig und verwirrend schwer zu fassen, wie die Zeit, in denen wir leben. Es kennt nicht nur die Regel, sondern auch die Ausnahme. Es bietet Platz für so unterschiedliche Frauenfiguren wie das weißhäutige The-Gossip-Marshmallow Beth Ditto, das beweist, dass man es mit Kleidergröße 46 nicht nur in einschlägigen Nachmittagstalkshows zur Berühmtheit bringen kann. Die schrille Lady Gaga, deren Outfits außerhalb des Denkvermögens der Branche liegen. Und all die "Brigitte"-Mädchen aus den Cafés an der Ecke mit ihren haferflockengesunden Gesichtern, die alles andere als beängstigend hübsch sind.

"Lieber Orangenhaut als gar kein Profil", hat Hamburgs Lieblingsentertainerin Ina Müller übrigens schon vor Jahren gesungen. Jetzt ist die Botschaft in der Modewelt angekommen.