Der Meinungsforscher und Emnid-Chef erklärt anhand der NRW-Wahl, warum Politiker schuld daran sind, dass sich viele Bürger von unserem Parteiensystem abkehren

Sonntag wählt das bevölkerungsreichste Bundesland ein neues Parlament, zudem die Handlungs(un)fähigkeit der Bundesregierung. Geht es in Nordrhein-Westfalen doch auch darum, ob Schwarz-Gelb bestätigt wird und in Berlin durchregieren kann - oder ob Rot-Grün Blockademacht erhält.

Doch wer glaubt, die Wähler wollten eine inhaltliche Auseinandersetzung, Diskussionen um das beste Zukunftsmodell, eine kritische Aufarbeitung der Regierung Rüttgers, sie wollten diskutieren, was besser gemacht werden kann, sieht sich getäuscht.

Sponsoring, Spenden und Spekulationen über ein mögliches Rot-Rot und - in Abkehrung von Johannes Raus Leitsatz "Spalten statt versöhnen" - bestimmen den Wahlkampf und über die Zukunft des wichtigsten Bundeslandes in den nächsten fünf Jahren. "Negative Campaigning" ist zur Mutter aller Wahlkampfkonzepte geworden. "Negative Voting" am 9. Mai ist die Folge.

Vorbei die Zeit, als Wahlen in Deutschland nach Persönlichkeiten oder Inhalten entschieden wurden. Wo es um "Willy wählen" ging oder auch bei uns um Bill Clintons Motto: "It's the economy, stupid!", nur die Wirtschaft zählt. Also um Köpfe und Konzepte.

Bei der skurrilen NRW-Wahl bietet dieser Zeitgeist vor allem der in Kompetenz und Personal ausgebluteten SPD die Chance auf ein achtbares Resultat: Gespielte Entrüstung, Diskreditierung des CDU/FDP-Personals, geschickte "Ihr wollt doch wohl nicht etwa ..." - Suggestion reden ein gewichtiges Wort mit. Fraglich nur wo? Beim Wahlentscheid, dann zugunsten der SPD. Oder bei der Wahlbeteiligung, dann zum Vorteil der CDU.

Dass es immer weniger um Inhalte, Argumente, Programme, Bilanzen oder Konzepte geht, sondern um psychologische Diffamierung, Wortklauberei und teilweise groteske Selbstlobhudelei, ist Schuld der Parteien und - als Quittung - schuld an der Abkehr der Wähler vom Parteiensystem.

Weil nur noch zwölf Prozent der Deutschen den Parteien vertrauen, ihnen weniger als die Hälfte Problemlösungskompetenz unterstellen, nur zehn Prozent eine Politik nach Vision und Zukunftsplan vermuten und weil sich in Folge des Vertrauensverlustes gerade 25 Prozent der Deutschen (statt 50 Prozent wie 1990) für Politik interessieren, ist der Wunsch nach Analysen und Argumenten überschaubar. Schließlich besagt dieser Befund, dass 75 Prozent Desinteressierte die Wahl entscheiden. Was eine veränderte Wahl-Mechanik zur Folge hat: Wahlkämpfe werden emotional, banal, brutal - Ringen um Argumente hat ausgedient.

Empören ist zur Königsdisziplin von Wahlkämpfern geworden. Nur merken die Politiker nicht, wie sie sich selbst schaden. Während die Mehrheit der Wähler sie im Büßerhemd sehen will - und ihnen dann möglicherweise ihre Stimme gibt, feuern sie im Kampfanzug Breitseiten gegen gegnerische Stellungen ab, gerne von den Medien verstärkt. Entrüsten ist erfolgreicher als Argumentieren. Vordergründiges Kümmern besser als Kompetenz. Verständnis zeigen wirksamer, als für Reformen zu kämpfen.

"Wer sich für morgen einsetzt und versucht, Zukunftsreformen zu thematisieren, ist selber schuld", lautet die zentrale Spindoctor-Regel dieser Wahl: zumal 85 Prozent der Deutschen mittelfristig ein "bergab für Deutschland" erwarten und "Reformen" von über 80 Prozent mit "es wird uns dadurch schlechter gehen" assoziiert werden. Gerade deshalb geht es im NRW-Wahlkampf fast ausschließlich um Empörung über gestern statt um Weichenstellung für morgen.