Der 17 Jahre alte Lukas K. half einer Frau, die von fünf Schlägern bedroht wurde. “Da habe ich nicht lange überlegt. Ich musste helfen.“

Hamburg. Es dauerte nur Sekunden. Wie so oft. Von einem Moment auf den anderen entlud sich die Gewalt. Mal wieder. Ein Faustschlag, aufgeplatzte Haut, Gebrüll, Hektik. "Das ging alles so schnell. Ich hatte keine Chance zu reagieren", sagt Lukas K. Dabei wollte er nur helfen.

Lukas ist 17 Jahre alt, 1,95 Meter groß, Schüler an einer Hamburger Gesamtschule und seit vergangenem Freitag Opfer von Gewalt im Umfeld von S- und U-Bahnhöfen. Pflaster kleben auf seiner linken Augenbraue, um eine eineinhalb Zentimeter lange Platzwunde zu verdecken. Hier, an der S-Bahn-Haltestelle Holstenstraße, ist es passiert. Ein mulmiges Gefühl hat er nicht gehabt, zum Tatort zurückzukehren. Er fährt weiterhin mit Bus und Bahn, würde wieder helfen, wenn jemand in Not ist, würde wieder couragiert dazwischengehen, wenn eine Frau von fünf Männern attackiert wird. Nur dieses Mal würde er es anders machen. Überlegter. Ohne selbst zum Opfer zu werden. "Ich würde gleich die Polizei rufen. Denn diese Brutalität, diese hemmungslose Gewalt, das war krass."

Es ist 23.30 Uhr am vergangenen Freitag, als Lukas mit ein paar Freunden am S-Bahnhof eintrifft. Sie wollen in den nur wenige Schritte entfernten Stage Club, Party machen. "Aber als wir aus der S-Bahn stiegen, habe ich schon gesehen, wie eine Frau, vielleicht 45, 50 Jahre alt, von einer Männergruppe bedrängt wurde." Unfassbare Beleidigungen habe sie sich anhören müssen. Wenig später drohte die Situation zu eskalieren. Die Männer wurden handgreiflich. "Da habe ich nicht lange überlegt. Ich musste helfen."

Lukas nahm die Frau in den Arm und zog sie aus dem aggressiven Halbkreis in Sicherheit. Doch er kam nur ein paar Meter. Ein Freund wollte ihnen zu Hilfe eilen, kassierte einen Tritt. "Da habe ich mich umgedreht, und schon stand einer der Männer vor mir." Der Schläger habe gefragt: "Und du willst ihm jetzt helfen, oder was?" Dann prügelte er los. Lukas' Auge schwoll an. Platzwunde. Krankenwagen. Polizei. Die Täter flüchteten. Körperverletzungen dieser Art passieren hundertfach in Hamburg, meistens erscheint eine kleine Meldung in der Zeitung.

"Aber wenn es dich persönlich betrifft, bist du nur geschockt", sagt Lukas. Obwohl es für ihn glimpflicher ausging als für Dominik Brunner, der im September 2009 am Münchner S-Bahnhöf Solln totgeschlagen wurde, weil er Kinder beschützen wollte. Oder für Artur G., der am Neujahrsmorgen 2011 in ähnlicher Situation an der S-Bahn-Station Veddel schwer verletzt wurde.

Nach Abendblatt-Informationen hat es im Jahr 2010 an den 59 Bahnhöfen und S-Bahn-Haltestellen sowie in Bahnen und Fernzügen innerhalb Hamburgs 1073 Körperverletzungen gegeben. 165 mehr als im Jahr zuvor. Vergleichbare Zahlen für die Folgejahre gibt es laut Bundespolizei nicht. Denn weil die statistische Erfassung umgestellt wurde, stieg die Zahl der Delikte im Jahr 2011 sprunghaft auf 2150, im ersten Halbjahr 2012 waren es 1084. Zum Schutz der Fahrgäste wurde mehr Personal eingestellt. Inzwischen zeigen 670 statt 560 Sicherheitsmitarbeiter im Hamburger Nahverkehr Präsenz.

"Doch Kameras, Notrufsäulen oder noch mehr Hochbahnwachen vermitteln in solchen Situationen keine Sicherheit. Dann ist es nur erschreckend, was manchmal in dieser Stadt abgeht", sagt Lukas. "Wenn fünf junge Männer eine Frau so in die Enge treiben, läuft was falsch." Für ihn endete sein kühner Einsatz in der Notaufnahme der Asklepios-Klinik Altona. Eine Krankenschwester erklärte ihn spontan zum "Helden der Nacht", die selbst gekritzelte Urkunde hat er noch. "Das macht zumindest ein bisschen Mut." Auch die Frau, der er half, habe sich noch an Ort und Stelle bedankt. Warum sie attackiert wurde, weiß er bis heute nicht. "Ich habe aber ihre E-Mail-Adresse."

Jetzt, fast eine Woche nach dem Übergriff, weiß der junge Mann nicht so recht, wohin mit seinen Gefühlen. Er weiß nur, dass seine Eltern außer sich waren, als er Freitagnacht nach Hause kam. "Meine Mutter hatte natürlich totale Angst um mich. Muttergefühle halt. Und mein Vater war einerseits unglaublich stolz auf mich. Andererseits war er so wütend, dass an Bahnhöfen immer wieder Menschen verprügelt werden." Zumal die Täter noch nicht ermittelt werden konnten, wie Polizeisprecherin Sandra Levgrün sagt. "Wir haben die Daten von Personen, die möglicherweise als Täter infrage kommen. Aber die Ermittlungen dauern noch an."

Sein couragierter Einsatz wird Lukas demnach noch länger begleiten. Er ist nicht nur Opfer und stiller Held, sondern auch Zeuge. Weil alles sehr schnell ging, kann er aber nur sagen, dass die Täter "junge Männer" waren. "Normale Typen, Deutsche, Polen, vielleicht andere Europäer - ich weiß es nicht." Doch vermutlich seien sie vorbestraft. Denn ein Mann habe ihm direkt nach der Tat gesagt, er solle doch auf eine Anzeige verzichten, denn die Jungs hätten schon so viel auf dem Kerbholz.

Die Polizei rät in solchen Situationen, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Aber Lukas meint: "Ich hätte ja schlecht zusehen können, wie die Frau geschlagen wird." Allein wegen ihrer Feigheit wolle er, dass die Schläger ihre gerechte Strafe erhalten. Und ja, so etwas Ähnliches wie Hass verspürt er auch. "Allerdings laufe ich jetzt nicht deprimiert durch die Gegend. Es macht mich nur traurig, dass so etwas immer wieder in Hamburg passiert."