Sechs Jahre nach Tod eines Kremlkritikers verlangt England von Russland Auslieferung des Ex-Hamburgers Kowtun. Er soll das Gift besorgt haben.

Hamburg. 22 Tage lang dauerte das qualvolle Sterben des Alexander Litwinenko. Fernsehbilder zeigten den ehemals sportlichen Mann kurz vor seinem Tod abgemagert und entkräftet auf der Intensivstation einer Londoner Klinik. Die Haare waren ihm ausgefallen, das Sprechen fiel ihm schwer. Die Nackenmuskeln waren bereits zu schwach, um den Kopf zu heben. Am 23. November 2006 um 21.21 Uhr Ortszeit hörte das Herz des 47-jährigen Kremlkritikers auf zu schlagen. Kurz darauf wurde in seinem Urin das radioaktive Schwermetall Polonium-210 nachgewiesen.

Mit Litwinenkos Tod begannen die Ermittlungen in einem beispiellosen Geheimdienstkrimi. Der Verdacht reichte vom langen Arm des früheren KGB bis zur Russen-Mafia. War der aufsässige Doppelagent vorsätzlich vergiftet worden? Bis heute ist nicht geklärt, wer das radioaktive Gift in die britische Hauptstadt schaffte und Litwinenko um sein Leben brachte. Doch sechs Jahre nach seinem Tod ist erneut Bewegung in den Fall gekommen: Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax soll Großbritannien einen internationalen Haftbefehl gegen den ehemaligen Wahl-Hamburger und nun wieder in Russland lebenden Geschäftsmann Dmitri Kowtun erwirkt und seine Auslieferung verlangt haben.

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Kowtun, der als Offizier der russischen Streitkräfte in der Ex-DDR stationiert war, 1992 desertierte und in Hamburg Asyl beantragte, war lange verdächtigt worden, die tödliche Poloniumdosis von Moskau über Hamburg nach London gebracht zu haben. Dabei soll er eine radioaktive Spur hinterlassen und sich sogar selbst leicht vergiftet haben. Diese Spur war es auch, die die Ermittlungen Scotland Yards nach Deutschland brachten: Auch in der Wohnung Kowtuns an der Erzbergerstraße in Ottensen wurden Reste des radioaktiven Giftes aufgespürt. Bei einem Treffen mit Litwinenko in der Pine Bar des Millennium Hotels in London am 1. November 2006, an dem neben Kowtun drei weitere Männer teilnahmen, soll der Ex-KGB-Agent Litwinenko dann vergiftet worden sein. Die tödliche Dosis soll Litwinenko über seinen Tee aufgenommen haben.

Bewiesen werden konnten Kowtun die Vorwürfe, das Gift transportiert zu haben, nicht. Die Hamburger Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen wegen des Verdachts des unerlaubten Umgangs mit radioaktiven Stoffen im November 2009 ein - aus Mangel an Beweisen. Zuletzt galt Kowtun, der wieder in Moskau lebt, sogar als Opfer und nicht mehr als Täter. In Russland liefen dazu Ermittlungen gegen Unbekannt wegen Mordversuchs gegen Kowtun. Und: Medienberichten zufolge soll er nicht im Fokus der britischen Behörden gestanden haben - bis jetzt.

Auf welchen neuen Erkenntnissen der nun bekannt gewordene Haftbefehl beruht, ist unklar. Zumal es bislang weder eine offizielle Bestätigung von britischer noch von russischer Seite gibt. Bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei bislang kein Haftbefehl eingegangen, sagte eine Behördensprecherin der Agentur Interfax. Die will ihre Information wiederum aus russischen Geheimdienstkreisen erhalten haben. Auch der deutsche Anwalt von Kowtun, der Hamburger Wolfgang Vehlow, hat bislang keine entsprechenden Erkenntnisse. Allerdings sagte er dem Abendblatt, dass die noch in Hamburg lebende Ex-Frau Kowtuns und dessen Schwiegermutter vor Kurzem von der britischen Polizei kontaktiert worden seien. Sie sollen als Zeugen aussagen.

Kowtun hingegen, der zehn Jahre in Hamburg lebte, äußerte sich bereits mehrfach: In einem Interview mit der in Moskau erscheinenden Tageszeitung "Moskowsky Komsomolez" zeigte er sich "sehr überrascht". Interpol sei informiert, sagte er dem Blatt laut Nachrichtenagentur AFP. "Wenn ich irgendwo in Europa erscheine, werde ich festgenommen und als Verdächtiger an Großbritannien ausgeliefert. Natürlich gefällt mir das nicht." Englische Blätter zitieren ihn mit der Aussage, russische Staatsanwälte hätten ihn informiert, dass die englische Regierungsorganisation Crown Prosecution Service die Auslieferung in einem Schreiben vom 12. Februar erbeten habe.

Eine Auslieferung muss Kowtun allerdings nicht fürchten, wie der Fall seines Jugendfreunds und des Hauptverdächtigen im Fall Litwinenko beweist: Der Duma-Abgeordnete und ehemalige Geheimdienstler, Andrej Lugowoi, gilt bei Scotland Yard als Schlüsselfigur im Polonium-Komplott. Auch er nahm an dem Treffen 2006 mit Litwinenko teil. Die britischen Behörden verdächtigen ihn des Mordes, wollen ihn anklagen.

Lugowoi ist seit 2007 mit internationalem Haftbefehl ausgeschrieben, auch in seinem Fall gibt es ein Auslieferungsersuchen. Die russische Regierung wies das Ersuchen jedoch seinerzeit brüsk zurück und sorgte damit für erhebliche Spannungen zwischen beiden Ländern. Lugowoi ist nicht nur dadurch vor der Strafverfolgung geschützt, dass Russland keine Staatsbürger ausliefert. Als Abgeordneter des Parlaments - er sitzt in der Fraktion des Rechtspopulisten Schirinowski - genießt er Immunität.

Den Verdacht, vorsätzlich vergiftet worden zu sein, hatte Litwinenko noch auf dem Sterbebett selbst ins Spiel gebracht: In einem Nachruf verdächtigte er unter anderem den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Hintermann des Mordkomplotts.

Insider behaupten zudem, die für den Mordanschlag erforderliche Menge Polononium hätte nur mit Putins ausdrücklicher Erlaubnis dem Produktionsprozess in Russland entnommen werden können. 1999 war der damals noch aktive Geheimdienstler Alexander Litwinenko mit der Behauptung an die Öffentlichkeit gegangen, er habe einen offiziellen Auftrag, den nach England geflüchteten russischen Milliardär Boris Beresowski zu töten, und zog sich deshalb den Zorn des Kreml zu. Ein Jahr folgte später er Beresowski und zog ebenfalls nach London.

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