Alle Fahrgeschäfte des Doms an einem Tag: Da bewegte sich Autor Alexander Schuller manches Mal am Limit dessen, was der Körper verkraften kann. Wie gut, dass er nicht gegessen hatte.

Die Frage, die ich mir an diesem Freitagnachmittag um 16.43 Uhr stelle, lautet: „Warum?“ Eben noch, 16.42 Uhr, war ich ein Mann in den besten Jahren, leidlich sportlich und übergewichtig, aber tiefenentspannt. Doch warum war ich nur ein Kirmeskind gewesen und kein Zirkuskind? Warum hatte ich begeistert „Hier!“ geschrien, als der Chefredakteur einen Freiwilligen suchte, der alle 23 Fahrgeschäfte des Hamburger Winterdoms für Erwachsene auf Herz und Nieren prüfen sollte, und das an einem Tag? „Sie leiden nicht an Höhenangst, oder?“, hatte er noch gefragt. „I wo“, hatte ich lässig erwidert, „kein Problem, Chef!“

Und schon saß ich im Shaker, gleich am Dom-Eingang Glacischaussee. Beachten Sie bitte das linke Foto: Das bin ich, in froher Erwartung, Sekunden vor dem Start zu einem dreiminütigen Schüttelvergnügen. Dessen Sinn jedoch einzig und allein darin besteht, einen intakten lebenden Organismus ins Chaos zu stürzen: kopfüber in einer Gondel hängend, rase ich mit Lichtgeschwindigkeit zu hammerharten Discorhythmen auf eine mit bunten Glühbirnen illuminierte Metallwand zu, im selben Augenblick werde ich zweimal um die Längs- und einmal um die Querachse geschleudert und muss gleichzeitig einen astreinen Überschlag verdauen.

Eine Extrarunde im Shaker

„Dann geben wir jetzt mal Vollgas!“, säuselt der Chef in seinem Kassenhäuschen ins Mikrofon und frohlockt: „Extrarrrrrrunde!“ Seine Stimme hallt. Eine Sirene heult auf. Irgendetwas surrt und steigert sich zu einem unheimliches Heulen. Die Geschwindigkeit nimmt rapide zu. Die Intensität und Zahl der Überschläge auch. Die Elektromotoren des Shaker geben alles, um mich auf Herz und Nieren zu prüfen.

Als ich aus der Gondel herausklettere, weigert sich Bertold Fabricius, der meine Expedition fotografisch begleitet, beharrlich, ein Beweisfoto zu schießen. „Zombies kann man nicht drucken“, meint er und schlägt mir diabolisch grinsend den Verzehr eines Burgunderbratenbrötchens vor. Ich habe jedoch aus unerklärlichen Gründen keinen Appetit. Und falls es Sie interessiert: Ich werde noch für eine ganze Weile keinen Appetit auf all die Leckereien entwickeln, die zu einem Dom-Bummel einfach dazugehören: auf gebrannte Mandeln, Bratwurst, Maiskolben mit Knoblauchbutter, Mutzenmandeln, Lakritzstangen, Pommes, Crêpes mit Nutella, Zuckerwatte, Liebesäpfel und, ach ja, Burgunderbraten… Was ich mir als Kirmeskind kiloweise reinstopfen konnte. Damals.

Im Skyfall läuft das Leben noch einmal an einem vorbei

„Ach, wissen Sie, das ist doch ganz normal“, beruhigt mich später Michael Nehring, 52, Oberfeldarzt und Leiter der Flugphysiologischen Ausbildung der Luftwaffe in Königsbrück in Sachsen. „Im Laufe der Zeit lassen viele Sinnesorgane häufig nach. Darunter auch das Gleichgewichtsorgan. Und wenn die Flüssigkeit in den Bogengängen ordentlich durcheinandergewirbelt wird, kommt es zum Dreh- oder Schwankschwindel, ähnlich wie bei alten Menschen.“ Auch verlängere sich die Rekonvaleszenzzeit, in dem das Gleichgewichtsorgan sich erholen kann. „Na prima“, denke ich, während ich auf den Flasher zutorkele, „dann bist du also alt.“

Auf dieser gigantischen Riesenschaukel fällt mir dann schon bei der ersten Umdrehung 70 Meter über dem Heiligengeistfeld die scheinheilige Frage des Chefredakteurs ein, ob ich etwa an Höhenangst leide. Jetzt ja! Dass man eine Akrophobie jedoch ins Unermessliche steigern kann, wird mir erst nach fünf weiteren Stunden Domvergnügens bewusst, als ich mich auf Sitz 4 neben feixenden jungen Leuten in 80 Meter Höhe auf dem Skyfall befinde, mit baumelnden Füßen, von einer Art Körperpanzer in den Sitz gepresst. Wissend, dass ich gleich im freien Fall dem Asphaltboden entgegenstürzen werde, bestaunt von vielen Dutzend Gaffern, denen im Gegensatz zu mir der Mut fehlt, die Grenze ihrer psychischen und physischen Belastbarkeit auszuloten. Dann klinkt der Skyfall aus. Jetzt weiß ich, wie es ist, wenn ein 52-jähriges Leben wie ein Film im Zeitraffer vor dem geistigen Auge abläuft.

Bewusstlos werden ist praktisch ausgeschlossen

„Extreme G-Kräfte oder die Schwerelosigkeit auf Rummelplätzen wirken immer nur für wenige Sekunden“, sagt Luftwaffen-Arzt Nehring später fröhlich, „die Chance, bewusstlos zu werden, ist praktisch ausgeschlossen. Nur wer Probleme mit dem Rücken hat, sollte es besser ruhig angehen lassen.“ Ich habe keine Probleme mit dem Rücken, aber ich hätte mir in einigen Situationen gewünscht, ohnmächtig zu sein.

Höher, schneller, spektakulärer – wie viel geht noch? Wo sind die Grenzen? „Wir glauben, dass die Technik praktisch ausgereizt ist“, sagt Lucinde Boennecke vom Deutschen Schaustellerbund. Und noch etwas: „Die extrem rasanten Fahrgeschäfte ziehen zwar die jungen Leute an, aber die demografische Entwicklung spricht dafür, bei den Attraktionen wieder mehr aufs ‚ganze Volk‘, das heißt auf alle Altersklassen zu setzen.“ Der Trend gehe klar in Richtung Nostalgie, Kulinarik und Romantik, auch auf dem 684. Hamburger Winterdom. Das lasse sich auch durch eine aktuelle Studie des Schaustellerbundes belegen: „Die Zahl der Volksfestbesuche gegenüber dem Jahr 2000 (178 Millionen) ist bis heute um rund 30 Millionen zurückgegangen“, sagt Lucinde Boennecke, „dafür können die Weihnachtsmärkte seit der Jahrtausendwende ein Plus von rund 35 Millionen Besuchern verzeichnen.“

Später, an den Fressbuden, als ich endlich wieder wusste, wo oben und unten ist, habe ich mir fest vorgenommen: Das nächste Mal teste ich wieder Glühweine.

Weitere Infos: www.hamburg.de/dom