Lesung. Der Amerikaner Gabriel Tallent stellt im Literaturhaus sein Debüt „Mein Ein und Alles“ vor. Ein umwerfendes Buch

    „Sie fühlt sich wie ausgeweidet. In ihrem Innern ist nichts, sie hat nichts zu sagen, kann nichts denken, nichts fühlen. Falls sie Trauer in sich trägt, merkt sie es nicht. [...] Sie könnte alles tun, sie könnte jemandem grenzenlosen Schmerz zufügen, aber sie will jetzt nur ihre Augen schließen und mit ihren Gedanken über diese Leere fahren, wie man mit der Zunge über das Loch fährt, das ein gezogener Zahn hinterlassen hat.“

    Sie, das ist die 14-jährige Turtle, die abgeschieden mit ihrem gewalttätigen Vater irgendwo in den nordkalifornischen Wäldern aufwächst. Hauptfigur in Gabriel Tallents Debütroman „Mein Ein und Alles“, der – mindestens! – die Entdeckung des Jahres ist. Wann hat man zuletzt ein Buch von solch emotionaler Wucht gelesen, in das die detailgenauen, ungemein sinnlichen ­Naturbeschreibungen ebenso hineinziehen wie das Schicksal der Protagonistin? Ein „Meisterwerk“ hat Stephen King dieses Buch genannt, was einerseits stimmt, anderseits aber auch auf die falsche Fährte führen könnte, denn „Mein Ein und Alles“ ist kein Horror im kingschen Stil, auch wenn man als Leser teilweise mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen die Seiten umblättert.

    Tallent (30), der in New Mexico aufwuchs und nach seinem Studium Jugendgruppen durch die Wildnis der nordpazifischen Küste führte, kennt sich aus mit Stachelkiefern und Riedgräsern, mit Waschbären und Meerzi­tronen. Mit der Welt, in der Turtle lebt, dieses Mädchen, das von ihrem Vater, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann, psychisch wie sexuell brutal missbraucht wird. Er schlägt sie mit dem Schürhaken grün und blau, als sie Interesse an einem Jungen entwickelt, er vergewaltigt sie regelmäßig – verstörende Szenen, in denen eine Art Einvernehmen zwischen Täter und Opfer zu bestehen scheint. Mal beschwört er Turtle geradezu, sie über alles zu lieben, ist zärtlich und beschützend, um im nächsten Moment gefährlich zu knurren „Du gehörst mir!“.

    Und Turtle? Die merkt ganz langsam, dass sie sich von ihrem kontrollsüchtigen Vater lösen muss, wenn sie überleben will. Dass sie nicht so untalentiert und schlecht in der Schule ist, wie sie immer gedacht hat. Dass es ein Leben jenseits des heruntergekommenen Hauses gibt, in dem ihr Vater zum Frühstück die erste Flasche Bier an der Küchentischkante aufschlägt und immer eine geladene Pistole im Hosenbund steckt.

    Im Literaturhaus liest Gabriel Tallent an diesem Mittwoch aus seinem Roman (deutsche Lesung: Anna Thalbach), der es mit jedem Jonathan Franzen oder Jonathan Safran Foer aufnehmen kann. Was für ein Debüt!

    Gabriel Tallent liest Mi 26.9., 19.30, Literaturhaus (Bus 6), Schwanenwik 38, Eintritt: 12,-/8,-; www.literaturhaus-hamburg.de