Paris. Alexander Zverev und Jan-Lennard Struff im Achtelfinale bei den French Open in Paris. Läuft es gut, sind sie Viertelfinalgegner.

Wer ihn an diesem ersten Turniersonnabend der French Open erlebte, draußen auf Platz 14 bei seinem ersten Grand-Slam-Achtelfinaleinzug überhaupt, hätte Jan-Lennard Struff (29) kaum wiedererkannt. So wie einen Schulkameraden, an dem man beim Klassentreffen nach vielen Jahren vorbeiläuft, weil er in jeder Beziehung nicht mehr der Alte ist. Charakterlich gereift, vielseitig, präsent, emotional – mitreißend in seinem Spiel. „Er hat eine neue Stufe in seiner Karriere erklommen“, befand DTB-Herrenchef Boris Becker nach Struffs triumphalem 4:6, 6:1, 4:6, 7:6 (7:1), 11:9-Überraschungserfolg gegen den favorisierten Kroaten Borna Coric (22) im Tollhaus Roland Garros.

Noch in den ersten Tagen des Turniers hatte Struff freimütig über sein „altes Ich“ gesprochen. Es sei immer schwer gewesen für ihn, mal so richtig aus sich rauszukommen, er habe sich bemüht, das „innere Feuer“ zu entfachen. Aber er sei eben oft auch an sich selbst „ein bisschen“ gescheitert. An dem, was auch Fans, Freunde und Kollegen sahen bei dem aufschlagstarken Riesen aus Ostwestfalen: das Phlegma, das etwas stoische Naturell, das insgesamt untertemperierte Auftreten. Struff verlor auch wegen dieser Attitüde viele Spiele, die er nicht hätte verlieren sollen. Er machte das Mögliche oft unmöglich. Und nicht umgekehrt.

Struff wird bei den Hamburg European Open antreten

Doch nun ist vieles anders. Seit zwei Monaten ist er glücklicher Vater eines Sohnes und wirkt auch deshalb wie einer, der mit sich und der Welt im Reinen ist, der sich auch eine ganz neue Tenniswelt erschlossen hat. „Ich glaube an mich, mehr als je zuvor“, sagt er. Das wird er auch tun müssen. Denn sein nächster Gegner ist der Serbe Novak Djokovic (32), die Nummer eins der Welt. Doch in Ehrfurcht zu erstarren ist des Deutschen Sache längst nicht mehr: „Wenn ich rausgehen würde, um nur ein ordentliches Spiel zu machen, hätte ich hier nichts zu suchen. Ich will gewinnen. Und ich sehe auch eine Chance.“

Struff gilt in der Branche als netter, lieber Kerl. Ein guter Kumpel, sehr verlässlich, einer mit trockenem Humor. Aber mit der Gemütlichkeit und Freundlichkeit scheint es nun vorbei zu sein, jedenfalls auf dem Tenniscourt. Dort, an seinem Arbeitsplatz, zeigt er plötzlich Biss, beweist Mut und Mumm. Wenn es heiß und brenzlig wird in den Matches, bei den wichtigen Punkten, zieht er nicht mehr zurück, erhöht stattdessen das Risiko. So wurde er auch zum Schrecken der Favoriten in den vergangenen starken Monaten dieser Saison 2019.

Struff sprach von einer „Mörderstrapaze“

Und nun auch in Paris, beim Match gegen Coric, den ambitionierten, jungen Kroaten. Vier Stunden und 22 Minuten ackerte und rackerte Struff, holte immer wieder Rückstände auf, machte zwei Breaks im letzten Akt des Krimis wett – es sei eine „Mörderstrapaze“ gewesen, sagte er hinterher. Aber es war auch eine bestandene Reifeprüfung. Ein Match, typisch für den neuen, den besten Struff. Dazu passt der Slogan auf seiner Baseballkappe: „Never quit“. Nie aufgeben.

In der ersten Turnierwoche trainierten Struff und sein prominenter Landsmann Alexander Zverev (22) regelmäßig miteinander. Erstmals bewegen sich die beiden Daviscupkollegen sportlich gefühlt auf Augenhöhe, als gemeinsame Achtelfinalisten. Zverev, Sieger in einer 6:4, 6:2, 4:6, 1:6, 6:2-Achterbahnfahrt gegen den Serben Dusan Lajovic (28), freute sich demonstrativ mit Struff, riss in seiner Pressekonferenz die Arme hoch, als er von dessen Sieg erfuhr. Allerdings: Beim Rothenbaum-Turnier (20. bis 28. Juli 2019) in Zverevs Geburtsstadt Hamburg wird nur Struff antreten.

Klare Niederlage für Serena Williams

Kumpel Zverev ist nun an diesem Montag (zweites Match nach 11 Uhr, zeitgleich mit Struff) gegen den schwer zu bespielenden Tennisrüpel Fabio Fognini (32) aus Italien gefordert – derzeit auf Sand einer der Besten. Gewinnen beide ihr nächstes Match, hieße das Viertelfinale Zverev gegen Struff.

Bei den Damen gab es derweil eine unerwartet klare Niederlage für Serena Williams (37). Sofia Kenin, 20 Jahre alte US-amerikanische Landsfrau, besiegte die 23-malige Grand-Slam-Königin mit 6:2 und 7:5. Es war, je nach Blickwinkel, auch der Höhe- und Tiefpunkt für die Topspielerinnen. Auch Frontfrau Naomi Osaka (21/Japan), aktuelle Nummer eins, hatte sich nach einer niederschmetternden 4:6, 2:6-Niederlage gegen die Tschechin Katerina Siniakova (23) am Sonnabend verabschiedet.

Die French Open sind der Beweis für einen Trend, der sich weiter verstärkt. Der Trend, dass es zwar noch auf dem Papier eine gewisse Hierarchie gibt, ausgedrückt in den Zahlen und Statistiken für die Weltrangliste. Dass aber eigentlich alle Gewissheiten und Verlässlichkeiten verschwunden sind. „Jede kann jederzeit gegen jede gewinnen“, sagt Barbara Rittner (46), DTB-Abteilungsleiterin für das Damentennis.

Mit Vorjahressiegerin Simona Halep (27/Rumänien) ist nur noch eine aus den Top sechs im Achtelfinale übrig geblieben, weil Mitfavoritinnen wie Angelique Kerber (31/Kiel), Karolina Pliskova (27/Tschechien) oder Elina Svitolina (24/Ukraine) früh verloren hatten, verletzungsbedingt gefolgt von Petra Kvitova (29/Tschechien) sowie Geheimfavoritin Kiki Bertens (27/Niederlande). Und: Zu Beginn der Saison war das Phänomen zu beobachten, dass bei den ersten 18 Wettbewerben 18 verschiedene Siegerinnen auf dem Podium ganz oben standen – ein früher unvorstellbarer, bis in den März 2019 auch nie erreichter Wert.