Manieren spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, findet Enrico Brissa. Der Protokollchef gibt Tipps für souveränes Auftreten.

Galanterie und Gleichberechtigung schließen sich niemals aus. Enrico Brissa weiß das und zeigt, wie es gelingt: Er hält seiner Begleitung die Tür des Berliner Restaurants auf, geht voraus und hilft ihr aus dem Mantel. Will die Dame später zahlen, in Ordnung, doch der 47-Jährige bietet auf jeden Fall an, die Rechnung zu begleichen. „Einer Frau höflich zu begegnen, reduziert sie niemals auf ihr Geschlecht“, sagt Brissa und rückt seine Krawatte zurecht.

Brissa könnte gestresst sein, ein hochrangiger europäischer Politiker wird später am Tage im Bundestag erwartet, es gibt noch viel zu organisieren. Doch wer seit 2001 im Dienst des Staates steht (Brissa darf sich dienstältester Protokollchef des Bundes nennen), der bleibt relativ cool bei normalem Termingeschäft. Wen er nicht schon alles in der Hauptstadt begrüßen durfte: die Queen, den Papst, Obama! Für die Queen stellte es den letzten Staatsbesuch dar, seit ihrem Besuch 2015 in Berlin war sie nicht mehr unterwegs. Und auch beim Besuch des Papstes 2011 hatten die Beteiligten das Gefühl, eine historische Situation zu erleben. Ein deutscher Papst zum letzten Mal in seiner Heimat.

In schwierigen Situationen blitzschnell handeln

Solche emotionalen Momente blieben selbstverständlich in Erinnerung, erklärt Brissa, doch wer im Protokoll arbeitet, der dürfe keine Neigung zu Nervosität haben. Im Gegenteil: Alle im Protokoll müssten in schwierigen Situationen oftmals blitzschnell handeln. Über seinen Job spricht Enrico Brissa nur sehr zurückhaltend. Denn Verschwiegenheit versteht sich für ihn von selbst. Doch erinnern Sie sich an die Szene, in der Christian Wulff nach seiner Rücktrittserklärung gemeinsam mit seiner Frau den Saal verlässt, und jemand schließt hinter dem Paar die Tür? Das war Enrico Brissa. Eigentlich stets unsichtbar im Hintergrund, dafür zuständig, dass die politische Maschinerie reibungslos läuft. Eben und gerade auch in Krisensituationen.

Von als Kind die korrekte Anrede gelernt

Brissa leitet seit 2016 das Protokoll beim Deutschen Bundestag und war zuvor als Protokollchef der Bundespräsidenten Wulff und Gauck tätig. Der Sohn eines Italieners und einer Deutschen lernte schon als Kind Tischsitten und korrekte Anreden, und zwar jedes Mal, wenn er seine Großtanten im Piemont besuchte. Da sei er regelmäßig „eingetaucht in eine Welt von Gestern.“

Die Essen glichen kleinen Festmahlen. Wenn er den Käse falsch abschnitt, den Wein beim Nachschenken falsch hielt oder die Tanten nicht korrekt ansprach, gab es Ärger. Als Junge konnte er dieser Strenge natürlich nicht so viel abgewinnen. Welches Kind hat schon Spaß am Einhalten von Regeln? „Doch so harsch ich es damals empfunden habe, die Regeln gaben mir Halt und halfen mir, eine bestimmte Haltung zu entwickeln, die von Höflichkeit und Rücksicht geprägt ist,“ sagt Brissa.

Große Verunsicherung

Häufig erlebt Brissa eine große Verunsicherung, wenn es um gutes Benehmen und Umgangsformen geht. „Ich habe Damen und Herren beobachtet, die schon mit einem förmlichen Dinner derart überfordert waren, dass sie den Abend gar nicht genießen konnten“.

Gebräuche, Rituale und Symbole menschlichen Benehmens scheinen nicht mehr geläufig zu sein, sie verschwinden irgendwo im Nirwana, und dann kommt es zu peinlichen Szenen, in denen Gäste in Silberschalen aschen, mit dem Fischmesser Brotstullen schmieren, sich nicht an Kleidungsempfehlungen halten (einmal erschien ein Hotelgast im Pyjama zum Frühstück), ohne Punkt und Komma sprechen oder – so geschehen an einer altehrwürdigen Fakultät – ihrem Sitznachbar den auf dem Teller verbliebenen Knödel mit einer Gabel aufspießen.

Respekt ist die halbe Miete

Brissa legt keinen Wert darauf, möglichst viel Regelwerk auswendig aufsagen zu können. Aufmerksamkeit und Respekt stellen für ihn die halbe Miete dar. „Wir sind nicht allein auf der Welt, diese Einsicht könnte ein bisschen präsenter sein, es geht nicht immer um die eigenen Bedürfnisse. Meine Rechte und Bedürfnisse sind beschränkt durch die Rechte und Bedürfnisse der anderen.“

Bei U-Bahn-Fahrten wundert er sich beispielsweise darüber, dass manche den Waggon mit einem Restaurant oder Badezimmer verwechseln. Da wird gegessen, getrunken, und sogar die Nägel werden poliert. Kürzlich bei einer Fahrt in einem sehr vollen ICE hörte Brissa eine nur auf den ersten Blick lustige Ansage des Zugführers: „Liebe Reisende, wenn Sie feststellen, dass Ihr Sitznachbar ein Gepäckstück ist, dann fragen Sie sich, ob das wirklich so sein muss.“

Alltag zunehmend von Remplern dominiert

Brissa hat schon viel erlebt, stets den Anstand gewahrt, doch sich zunehmend darüber gewundert, warum unser Alltag von Egos und Remplern dominiert wird. Was sind die Gründe für den immer weniger geltenden Kodex der Umgangsformen? Liegt es am großen Misstrauen gegenüber Regeln an sich, das in den vergangenen Jahren gewachsen ist? „Man kann ja Regeln infrage stellen, manchmal zu Recht. Aber wenn sie schon gar nicht mehr bekannt sind?“, fragt Brissa.

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Gerade in einer Zeit der Fragmentierung wären gute Manieren in der Lage, Gemeinschaft und Identität zu stiften. „Sie sind wichtig als sozialer Kitt“, sagt Brissa. Umgangsformen dienten früher gesellschaftlichen Schichten immer auch zur Abgrenzung, in der Nachkriegsgesellschaft jedoch sollten Manieren dann nicht mehr als Teil einer Klassenidentität verstanden werden, es galt das Prinzip: Aufstieg durch Leistung.

Beförderung erst nach den "Gabeltest"

Wie steht es um Aufstieg durch gutes Benehmen? Nur weil unsere tolerante Gesellschaft schlechtes Verhalten nicht sanktioniert, bedeutet es nicht, Normverletzungen würden nicht geahndet. Sie sind ein Auswahlkriterium. Der Ruf eines Menschen ist nach wie vor sein soziales Kapital, insofern können gute Manieren als essenziell erachtet werden. Beförderungsentscheidungen und Einstellungen werden in manchen Fällen auch beim sogenannten „Gabeltest“ entschieden.

Wie sich ein Bewerber bei Tisch verhält, das sagt viel aus über eine Person, glauben einige Personaler. Sollten Sie sich beispielsweise schon immer gefragt haben, was Sie mit der Serviette machen: nicht in den Hemdkragen stecken oder wie ein Lätzchen umbinden. Sie sind ja kein Kind!

Ellbogen am Körper, nicht auf dem Tisch

Die Serviette wird zunächst gänzlich entfaltet, um sie dann zu halbieren und auf den Schoß zu legen. Nach dem Essen einfach locker zu einem Dreieck und auf die linke Seite des Gedecks legen. Und während des Dinners: aufrecht sitzen bleiben. Nur bei einem Toast oder einer Hymne sollten Sie aufstehen. Die Ellbogen am Körper, keineswegs auf der Tischplatte. Nur Gabel und Löffel führen Sie zum Mund, das Messer nie. Beim Gedeck isst und trinkt man „von außen nach innen“, schneiden Sie nur, was geschnitten werden muss, also etwa keine Kartoffeln. Einmal benutztes Besteck nie auf den Tisch zurücklegen, und zum Zeichen, mit dem Essen fertig zu sein, positionieren Sie das Besteck parallel mit nach rechts gerichteten Griffen auf den Teller.

Enrico Brissas Ansicht nach hat auch die digitale Revolution Einfluss auf das Schwinden der Manieren. Viele Menschen sind von der digitalen Flut überfordert. Außerdem bekommen sie immer weniger soziales Feedback, weil sie zunehmend weniger in soziale Strukturen wie Familien oder Vereinen eingebunden sind. Fehlende Gruppenerfahrungen führen dazu, kein gutes Gespür für Mitmenschen zu entwickeln. Das eigene Telefon jedoch, dem ist es egal, wie man es behandelt, es liefert immer die Möglichkeit des Kontakts mit irgendwem. Und am Ende des Tages heißt es dann: Mein Smartphone und ich – das Dreamteam.

WhatsApp statt Telefon

„Wenn sich Menschen zunehmend als Objekte der Tools und Apps empfinden, ist ein würdiger Umgang miteinander fast unmöglich. Zudem kommt die digitale Kommunikation weniger persönlich und verbindlich daher“, sagt Brissa. „Statt anzurufen, sagt man lieber schnell per WhatsApp ab.“ Ein Fauxpas, wie er findet. Für ihn stellt es ebenfalls eine auf der Hand liegende Unhöflichkeit dar, bei einem Essen im Restaurant das Handy auf den Tisch zu legen. Er selbst bewahrt es leise gestellt in seiner Jackett-Jacke auf. Als großer Kinogänger wundert er sich auch immer wieder darüber, wie wenige Zuschauer die Flugmodus-Funktion ihres Handys kennen. Oder kürzlich in der Oper. Da sangen sich die Darsteller die Seele aus dem Leib, und eine Sitznachbarin versuchte ihre Mails zu checken und bestrahlte mit dem Licht des Gerätes den dunklen Saal.

Brissa, der auch Lehrbeauftragter an der juristischen Fakultät der Universität Jena ist, weiß, wie man sich stilvoll entschuldigt, einen Toast ausbringt oder gute Geschenke macht. In seinem Buch „Auf dem Parkett“ fasst der Autor viele nützliche Regeln zusammen. Bei Abendveranstaltungen sollten Damen beispielsweise geschlossene Schuhe tragen und Herren möglichst eine andere Krawatte als tagsüber. Die Hände bleiben nicht in den Hosentasche, schon gar nicht, wenn der Herr mit einer Dame spricht. Auf massives Händeschütteln sollten Sie verzichten, Sie sind ja nicht Donald Trump. Seien Sie pünktlich! So demonstrieren Sie nicht nur eine professionelle Tagesplanung, sondern räumen der Zeit der anderen den gleichen Stellenwert ein wie der eigenen.

Aufmerksamkeit wichtiger als Regeln

Egal, ob es um ein hart diskutiertes Thema oder das Begleichen der Rechnung geht: das Zauberwort zum weltläufigen Benehmen heißt Großzügigkeit. Verzichten Sie darauf, recht zu haben oder im Restaurant den Taschenrechner zu bemühen. „Gute Manieren sind zu einem wesentlichen Teil altruistisch geprägt“, sagt Brissa.

Es geht Brissa nicht um ein formvollendetes Auftreten, nicht um peinliche Mikro-Etikette-Regeln, dass „man“ so oder so nicht isst, nicht niest oder eine Dame anschaut. Er plädiert für Rücksicht, Aufmerksamkeit und Respekt voreinander: „Ich möchte keine antiquierten Vorstellungen von Benimm wiederbeleben. Jede Zeit hat ihre Umgangsformen.“ Doch ein achtsames Miteinander ist zeitlos.

Und manches, was als modern gilt, stellt im Grunde nur das Aufkochen traditioneller Vorstellungen dar. Wenn Brissa Berlin-Mitte-Hipster sieht, denkt er an den Dadaisten Walter Serner, der nach dem Ersten Weltkrieg bereits den Rat verfasste: „Die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegen, Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus 30-jährigen Halunken 50-jährige Respektspersonen machen. Verzichte auf solche Kindereien, welche, die weniger Vertrauen eintragen als eine gut gewählte und raffinierte Krawatte.“

Enrico Brissa  kommt nächste Woche Mittwoch (27. Februar)  zur Lesung ins Prinz Komma Bernhard – Große Bleichen 21 (in  der Galleria-Passage).

Beginn ist um 18 Uhr, Karten kosten 25 Euro p.P. zuzügl. Gebühren.

Hier gibt es Tickets:

Hamburger Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr (Abonnenten sparen Lizenzgebühr und Versandgebühren).

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Hamburger Abendblatt-Ticket-Hotline, 040/30 30 98 98  Mo–Fr 8–19 Uhr,  Sa 8–13 Uhr.